Dry January 2023

Dry January 2023

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Dry January – schon mal gehört? Ich bisher noch nicht. Bis ich vor einigen Tagen das erste Mal darauf aufmerksam gemacht wurde. Ich blickte gerade – mit dem Handy am Ohr – aus dem Fenster. Regentropfen perlten von der Scheibe ab, und der Asphalt auf der Straße war flächendeckend nass. Trockener Januar – was für ein Paradoxon angesichts dieses Wetters. Aber wie Sie sich vielleicht schon denken können, entbehrt dieser Ausdruck jeglicher Anspielung auf Niederschlagsmengen. Es geht vielmehr um das Thema „Alkohol“. Und in der Tat fiel mir ein, dass ich in den letzten Tagen mit einer gewissen Verwunderung eine Häufung von Artikeln hierzu bemerkt hatte.

Kollektiver Aufruf zum Alkoholverzicht – gute Idee mit Für und Wider

Der Jahreswechsel ist traditionell die Zeit der guten Vorsätze. Sie haben während der Weihnachtsferien über die Stränge geschlagen? Sie haben dabei das ein oder andere Glas zu viel getrunken? Und ihr „schlechtes“ Gewissen mahnt Sie nun zur Mäßigung? Diese Gemengelage macht sich die Kampagne „Dry January“ zunutze und regt an, den ersten Monat des Jahres auf den geliebten Drink zu Feierabend, an den Wochenenden oder bei sonstigen Gelegenheiten zu verzichten.

Im Prinzip eine gute Idee. Und jemand wie ich, der selbst ein Alkoholproblem hatte und nun regelmäßig für eine Suchtklinik schreibt, sollte diese Aktion hier eigentlich enthusiastisch feiern. Doch wenn ich ehrlich bin, weckt sie bei mir eher zwiespältige Gefühle. Ich will im Folgenden erklären, warum, und einen Blick auf das Für und Wider werfen. Doch zunächst ein paar Infos zur Sache.

Der „Dry January“ auf dem Weg zur europäischen Erfolgsstory

Das „Mutterland“ des Dry January ist Großbritannien. Dort wurde die Kampagne – nach einigen Jahren inoffizieller Vorlaufzeit – 2014 erstmals offiziell ausgerufen und zu einem beachtlichen Erfolg geführt. Im Jahr 2020 nahmen laut Alcohol Change UK 4 Millionen Briten*innen an der Aktion teil. Dies ermutigte andere Länder in Europa, wie zum Beispiel Frankreich und die Schweiz, es den Menschen jenseits des Kanals gleich zu tun.

Dieses Jahr wird die Aktion auch in Deutschland von offizieller Seite aufgegriffen. Schirmherr ist der Sucht- und Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Burkhard Blienert. Verbreitet wird die Kampagne über das Blaue Kreuz, einer der großen Suchthilfeverbände in Deutschland. Aber auch im Social-Media-Bereich und der sonstigen Medienlandschaft wird sich des Themas „Alkoholverzicht“ zurzeit verstärkt angenommen.

Fluch und Segen der Medienkampagne hierzu

Genau dies ist einer der Punkte, worin ich Fluch und Segen zugleich sehe. Einerseits: Was bleibt mir anders übrig, wenn ich in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Menschen erreichen will? Wenn ich ihr Bewusstsein für einen allzu unkritischen Umgang mit dem fast schon zum Kulturgut erhobenen Genussmittel „Alkohol“ schärfen möchte? Und wenn ich beabsichtige, in diesem Zusammenhang eine Veränderung von tief verwurzelten Konsumgewohnheiten zu erreichen?

Anderseits: Wie schnell kommt man so in den Bereich der „Überpräsenz“. Ich denke an Themen wie Corona, Ukrainekrieg, Panzerdebatte, Donald Trump. Sie wurden und werden auf allen Kanälen der Berichterstattung oft so ausufernd dargestellt, dass man es irgendwann nicht mehr hören, sehen oder lesen will. Zumindest geht es mir so. Und aus zahlreichen Gesprächen unter Freunden*innen weiß ich, dass ich damit nicht alleinstehe.

Umfassende Berichterstattung und die Frage, was es bringt

Bildet der „Trockene Januar“ in diesem Zusammenhang eine Ausnahme? Gibt man allein in Google „dry january youtube“ ein, werden einem sage und schreibe 211.000.000 Ergebnisse angezeigt. Mit 59.800.000 Ergebnissen bringt es die Eingabe „dry january podcast“ ebenfalls auf eine ausgesprochen stattliche Zahl. Auf Instagram finden sich unter dem Hashtag #dryjanuary insgesamt 465.037 Beiträge. Und auf Facebook hat der Hashtag #dryjanuary rund 60.000 Follower.

Illustrierte und Wochenmagazine, wie zum Beispiel Spiegel (Ab wann ist man eigentlich abhängig?), Stern (Alkoholfreier Januar: So sinnvoll ist ein Dry January), FOCUS (Dry January […]: Macht ein einmonatiger Verzicht überhaupt Sinn?) oder Die Zeit („Dry January“: Trocken ins neue Jahr?) bespielen das Thema ebenfalls. Auch der Tagesspiegel und die dritten Programme (z. B. mdr, swr3) greifen die hiermit verbundene „Challenge“ auf.

Hinzu kommen die Onlinepräsenzen der gesetzlichen Krankenkassen (z. B. die Techniker Krankenkasse, die offiziell Förderer der Bundeskampagne ist). Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung rät in ihrem Portal kenn-dein-limit ohnehin zu einem trockenen Start ins neue Jahr. Und selbst Ökotest oder das Fachportal GetränkeNews widmen sich dem Trend zum Alkoholverzicht im ersten Monat des Jahres.

Eins wird beim genaueren Hinsehen schnell klar: In fast allen Artikeln und Beiträgen taucht immer wieder die Frage auf, was ein einmonatiger Alkoholverzicht bringt. Deshalb auch hier einige Infos zur Sache.

Erste ermutigende Ergebnisse aus Großbritannien

Aus Großbritannien liegen hierzu erste Erkenntnisse vor. Danach mieden – einer Umfrage der Universität Sussex zufolge – ein halbes Jahr nach dem Januar 2014 von 900 Teilnehmenden noch immer 72% einen schädlichen Alkoholkonsum. 4% behielten die Abstinenz bei.

Ob und inwieweit die Gesundheit von einem einmonatigen Verzicht profitiert, ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. Man weiß aber, dass das Weglassen von bestimmten Nahrungsbestandteilen (z. B. Zucker), Genussgiften (z. B. Alkohol) oder Medikamenten (z. B. Paracetamol) auf jeden Fall der Leber zugutekommt. Sie hat nämlich im Gegensatz zu anderen Organen die Fähigkeit, sich vollständig zu regenerieren – aber nur, wenn man ihr die entsprechenden Atempausen gönnt. Wie lange solche Atempausen zu bemessen sind, hängt unter anderem von der Regelmäßigkeit und Menge der Lebensstil-bedingten „Giftzuführung“ ab. Bisweilen reichen schon ein paar Tage, in anderen Fällen sind mehrere Wochen besser. Voraussetzung ist natürlich, dass die Leber ansonsten gesund und ohne Vorschaden ist.

Es gibt also ermutigende Hinweise darauf, dass bereits ein einmonatiger Verzicht einen positiven Effekt auf unseren Körper und Umgang mit Alkohol haben kann.

Wohlwollendes Echo trotz „Verbotsinflation“

Neben der Frage, was der Trockene Januar bringt, ist eine andere Frage aber mindestens ebenso wichtig: Was bringt die oben angerissene Berichterstattung über den Trockenen Januar? Ich habe bereits eingangs erwähnt, dass ich sie mit gewissen Bedenken wahrnehme. Warum? Nun, die medialen Ermahnungen zur Änderung unserer Lebensgewohnheiten häufen sich fast schon inflationär: Böller- und Rauchverbot, Fleischverzicht, Mäßigung beim Verzehr von Zucker, das Mantra der Energieeinsparung, die gewünschte Abkehr vom Auto sowie generell vom Individualverkehr, Vorgaben zum Sprachgebrauch beim Gendern, Unworte im Hinblick auf rassistische Diskriminierung, das Anprangern von kultureller Aneignung und nun auch noch der Alkohol.

Ich könnte es also durchaus verstehen, wenn nach der ohnehin schon verbotsreichen Zeit in der Hochphase der Coronaepidemie bei Menschen im ersten Reflex der Eindruck entsteht: an allen Ecken und Enden nur noch Verbote, Spaßbremsen und erhobener Zeigefinger. Umso bemerkenswerter ist es, dass bei den mehr als 50.000 Personen, die zurzeit in Facebook über den Dry January 2023 sprechen, diese Kampagne ein ausgesprochen wohlwollendes Echo hervorruft.

Eine Frage des Alters? Junge Leute trinken weniger

Liegt meine zwiespältige Haltung gegenüber dieser Aktion also vielmehr in mir selbst und meinem Alter begründet? Es wäre nachvollziehbar, dass sich junge Menschen mit dem gesellschaftlichen Wandel und Umdenken leichter tun, der sich in den oben aufgeführten Beispielen medialer Ermahnungen und Kampagnen widerspiegelt. Sie werden damit groß und kennen es von daher nicht anders. Sie müssen also viel seltener von Gewohnheiten Abschied nehmen und ihr Verhalten ändern. Sie tun eben einfach. Auch hierfür liefert der Alkohol ein gutes Beispiel. So ist der (regelmäßige) Alkoholkonsum unter Jugendlichen (12 – 17 Jahre) und jungen Erwachsenen (18 bis 25 Jahre) laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzG) schon seit einigen Jahren rückläufig – sogar stark rückläufig. Nur, damit keine Missverständnisse entstehen: Das finde ich selbstverständlich uneingeschränkt erfreulich.

Der Charme des Mindfull Drinking

In diesem Zusammenhang gibt es einen Trend, der dem Anliegen des Dry January keineswegs entgegensteht, aber einen etwas anderen Akzent setzt: „Mindful Drinking“. Im Deutschen bedeutet das so viel, wie: bewusster Alkoholkonsum mit Maß und Spaß. Dieser Ansatz hat Charme. Denn er bietet Spielraum, auch ohne rigorose Verbots- und Verzichtsattitüde zu gesünderen Trinkgewohnheiten zu animieren. Es gibt allerdings eine wesentliche Einschränkung: Funktionieren wird das nur, wenn man sich noch nicht im Bereich der Suchtgefährdung oder gar Abhängigkeit befindet.

Alkoholfreie Zeit als Chance für bereichernde Selbsterfahrung

Aber auch an der Idee des Trockenen Januars gibt es etwas, für das ich mich erwärmen kann. Für all diejenigen, die bisher noch keine Fans des Mindfull Drinkings waren, kann das Einlegen einer alkoholfreien Zeit die Chance für eine bereichernde Selbsterfahrung sein. Einfach mal ausprobieren und schauen, was passiert und sich verändert. Ob man sich dafür allerdings auf einen bestimmten Monat versteifen muss, halte ich eher für unerheblich. Ist für die einen der Januar genau der richtige Monat, ist es für andere genau der falsche. In Karnevalshochburgen wie zum Beispiel Köln, fällt der Januar mitten ins Sessionsgeschehen. Da wird man mit dem Dry January nur mäßigen Anklang finden. Dennoch ist der Gedanke des zeitlich begrenzten Alkoholverzichts hier gar nicht so neu. Er findet im Rheinland allerdings für gewöhnlich in der Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern seine Anhängerschaft.

Mein Fazit: Der richtige Augenblick für Eigenverantwortung und Selbstbestimmung ist immer!

Ich möchte an dieser Stelle folgendes Fazit ziehen: Der richtige Augenblick, risikoreiche Trinkgewohnheiten kritisch zu reflektieren, ist eigentlich immer – und zwar ganz unabhängig vom Kalendermonat. Und für suchtgefährdete oder bereits abhängige Menschen gilt ohnehin: Der richtige Augenblick zum Aufhören ist – jetzt!

Braucht es dazu einer Einbettung in Kampagnen? Und muss man diese in den Medien omnipräsent darstellen? Auch das ist in meinen Augen letztlich unerheblich. Entscheidend ist vielmehr: Egal, ob es um den Umgang mit Alkohol oder um den Weg aus einer Suchterkrankung geht – wenn so etwas nachhaltig gelingen soll, muss es selbstbestimmt und eigenverantwortlich erfolgen. Und es muss 24/7 an allen Tagen des Jahres die Möglichkeit geben, dies in die Tat umzusetzen. Insofern ist es gut, dass eine Suchtklinik wie Lifespring den geeigneten Rahmen für aufhörwillige Menschen ganzjährig und rund um die Uhr zur Verfügung stellt.

Über den Autor
Autor Frank Frank
Im Sommer 2018 bin ich von Lifespring mit der Redaktion dieses Blogs betraut worden und der Autor dieses Beitrags. Mein Name ist Frank. Seit vielen Jahren arbeite ich als freier Redakteur, Texter und Lektor. Auch ich habe eine „Suchtkarriere“ durchlebt. Bei mir war es der Alkohol. Seit 7 Jahren bin ich abstinent. Ich will hier nicht den häufig bemühten Himmel-Hölle-Vergleich bemühen. Denn beim Durchleiden meiner Sucht war nicht alles Hölle. Und jetzt, im Zustand der „Enthaltsamkeit“, ist nicht nur der Himmel auf Erden. Trotzdem war der Ausstieg aus einem alkoholschwangeren Leben die beste Entscheidung, die ich in jüngerer Zeit getroffen habe. Ich habe meine Freiheit und einen überwiegend klaren Kopf zurückgewonnen – auch wenn das Weltgeschehen mit nüchternem und enteuphorisiertem Blick nicht immer leicht zu ertragen ist. In diesem Blog möchte ich unter anderem über aktuelle Themen aus der Suchtforschung, aus dem Klinikalltag von Lifespring sowie aus den behandelten Suchtindikationen berichten. Ganz besonders möchte ich aber eins: Sie, als Betroffene oder Betroffenen, und Ihre unter Umständen ebenfalls betroffenen Angehörigen, genau da „abholen“, wo Sie der Schuh beziehungsweise die Sucht drückt.
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