Es geht vorbei – Gedanken zum November-Lockdown

Es geht vorbei – Gedanken zum November-Lockdown

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Seit Monaten bestimmt das Infektionsgeschehen im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 die Schlagzeilen: steigende Zahlen bei den Neuansteckungen, Appelle zur Einhaltung der Beschränkungen und AHA-Regeln (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske), unterschiedlichste Einschätzungen von echten und selbsterkorenen Pandemieexperten, Androhungen für ein erneutes Herunterfahren des sozialen Lebens und nun tatsächlich der zweite Lockdown. Existenzen stehen auf dem Spiel, die Infrastrukturen ganzer Branchen drohen bleibend Schaden zu nehmen und längerfristige Planungen sind kaum noch möglich. Kein Wunder, dass sich allseits Sorgen und Frustrationen breit machen. Zugespitzt könnte man sogar die Frage stellen: Was ist ansteckender – Corona oder das gemeinhin herrschende Klima aus Angst, Bedrückung und Depression?

Lockdown trifft November-Blues

Dabei trifft der Lockdown des sozialen Lebens gerade jetzt auf den jahreszeitbedingten Lockdown der Natur. Die Nächte werden länger, die verkürzten Tage sind oft grau und trüb. Die Temperaturen werden ungemütlicher, und die Bäume verlieren ihr Laub. Mit anderen Worten: Der November-Blues greift Raum. Nur ist der Lockdown der Natur nichts neues und ein sich jährlich wiederholendes Schauspiel. Entsprechend gibt es eigentlich eingefahrene und bewährte Strategien, wie man der herbstlichen Stimmung widersteht: eine aktive und abwechslungsreiche Freizeit- und Lebensgestaltung zum Beispiel mit Bewegung, Kultur, Essen gehen, Tanzen, Freunden treffen und so weiter und so fort. Doch genau das ist nun im Rahmen des zweiten Corona-Lockdowns nicht möglich.

Großer Mist also und zunächst eine gewisse Ratlosigkeit. Denn nun sind neue Strategien gefragt. Wie schaffe ich es, mich trotz aller Einschränkungen vom Corona-Geschehen und der vorwinterlichen Jahreszeit nicht runterziehen zu lassen? Es gibt zunehmend Menschen, die gerade jetzt im Konsum von Bier, Wein oder sonstigen (Genuss-)Drogen ein probates Mittel sehen, um das zu erreichen: sich nicht runterziehen zu lassen und nach ein paar Gläschen schnell wieder obenauf zu fühlen. Verständlich ist das. Sehr verständlich sogar. Und verlockend dazu. Denn es funktioniert – zumindest vorübergehend.

Was macht dies mit suchtgefährdeten Menschen?

Doch was macht dies mit Menschen, die eine Suchtveranlagung in sich tragen? Oder die bereits einen Entzug hinter sich haben und damit ohnehin einem deutlich erhöhten Sucht- und Rückfallrisiko unterliegen? Für sie ist dieser Weg keine Option. Denn er ist – man muss es an dieser Stelle so deutlich schreiben – für solche Menschen genauso gefährlich wie eine eventuelle Erkrankung an COVID-19. Doch welche Alternative kann man besonders suchtgefährdeten Menschen anbieten?

Diese Frage ist eine echte Herausforderung. Denn einiges von dem, was man zum Beispiel während eines qualifizierten Entzugs an Suchtbewältigungsstrategien erlernt, ist unter Umständen zurzeit ebenfalls nicht oder nur eingeschränkt möglich. Nun schreibe ich im Rahmen dieses Blogs nicht als Suchtexperte, sondern als selbst Betroffener. Daher möchte ich mich der Antwort auf diese Frage aus einem rein subjektiven Blickwinkel annähern und aus meinen persönlichen Erfahrungen berichten.

Auch ich vernehme den Ruf des Weins

Der bisherige Verlauf des Jahres 2020 war für mich schwierig. Dabei spielte Corona nur bedingt eine Rolle. So gab einige Todesfälle in meinem Umfeld, die alle nichts mit Corona zu tun hatten und mich traurig stimmten. Außerdem ging meine Partnerschaft in die Brüche. Ebenso war es nicht immer beflügelnd, dass ich mich im Rahmen meiner beruflichen Arbeit in den letzten Wochen intensiv mit dem Thema „Depression“ beschäftigen musste. Daher würde ich lügen, wenn ich nicht zugäbe: Bisweilen rief schon das ein oder andere Glas Wein nach mir. Ich lasse diesen Ruf auch durchaus zu – und zwar ohne Selbstvorwürfe. Denn ich will ehrlich mit mir und meiner Suchtgefährdung umgehen. Was mir hilft, diesem Ruf nicht zu folgen und ihn auch wieder verhallen zu lassen, ist dreierlei:

Zum einen rufe ich mir meine schlimmsten Abstürze unter Alkoholeinfluss in Erinnerung. Zum anderen führe ich mir klar vor Augen: Wenn ich wieder anfange zu trinken, gebe ich mir – höchstens – zwei Wochen, um wieder an dem Punkt des totalen Kontrollverlusts angelangt zu sein. Schließlich mache ich mir bewusst, wie ich in den sechs Jahren meines Trockenseins jeden Morgen mit einem aufgeräumten Kopf aufgewacht bin. Dann genehmige ich mir den ersten Kaffee, blicke aus dem Flurfenster meiner Wohnung in den anheimelnden Innenhof und genieße dieses Aufgeräumt sein ganz bewusst. Auch denke ich in diesen Momenten daran, wie sehr dies anders war, als ich noch jeden Morgen verkatert die Augen aufschlug. Dies gibt mir einen sehr starken Impuls, es so zu lassen, wie es ist: nüchtern, nicht immer fröhlich, aber aufgeräumt.

Genuss und Freude bringende Freizeitgestaltung ohne Alkohol

Natürlich weiß ich, dass das für sich genommen noch kein Allheilmittel ist. Und so ganz ohne Genuss und Freude bringende Freizeitgestaltung möchte ich den zweiten Lockdown ebenfalls nicht verbringen. So hatte ich schon beim ersten Lockdown meine Leidenschaft fürs Kochen wiederentdeckt. Hieran knüpfe ich an und bringe auch während des zweiten Lockdowns meine Töpfe zum Wallen. Des Weiteren bin ich mit einzelnen Freunden privat und in Zweierkonstellation verabredet. Wir werden Abstand halten und regelmäßig lüften. Und da, wo noch mehr Vorsicht von Nöten ist, laufen eben die Telefondrähte heiß oder bringen Video-Calls mein WLan zum Schwitzen.

Ebenso höre ich viel Musik, darunter immer wieder Schallplatten aus meiner „Jugendsammlung“ – den mittlerweile wieder erhältlichen Abspielgeräten sei es gedankt. Und ich genieße die Ruhe der Nacht, auch wenn sie erzwungen ist. Denn ich wohne in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem der Hotspots von Köln – mitten im prallen Leben also. Da tut es auch mal gut, nicht immer bis in die frühen Morgenstunden hinein verzerrten Hip-Hop aus übersteuerten Bluetooth-Boxen begleitet vom Gegröle minderbegabter Kehlen hören zu müssen.

Man kann der Situation auch Positives abgewinnen

Man kann der Situation des Herunterfahrens vieler Gewohnheiten und Aktivitäten also durchaus auch positive Seiten abgewinnen. So, wie es zum Beispiel der Inhaber eines gegenüber meiner Wohnung liegenden Restaurants tut. Kurz vor Beginn dieses November-Lockdowns rief ich ihm ein paar ermutigende Worte zu. Er entgegnete mir: „Ach, wissen Sie, man lernt in diesen Zeiten einfach wieder die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen. Und ich kann mich wenigstens mit dem Außer-Haus-Verkauf über Wasser halten. Da geht es anderen doch viel schlechter.“ Genauso mache ich selbst es auch. Wenn es bei mir nicht ganz so toll läuft, versuche ich das Ganze zu relativieren. Ich schaue auf die, denen es noch schlechter geht. Dann wird mir schnell bewusst, um wieviel es mir doch eigentlich besser geht. Das Glas bleibt dann zwar immer noch halb gefüllt, aber es ist eben nicht mehr halb leer, sondern halb voll. Das hilft!

Es geht vorbei!

Zum Schluss dieses Beitrags möchte ich einen Satz weitergeben, das sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt hat. Gelesen habe ich ihn, als ich mich beruflich – wie bereits oben erwähnt – mit dem Thema „Depression“ auseinandergesetzt habe. Bei dieser Gelegenheit habe ich zahlreiche Forenbeiträge durchforstet, in denen Betroffene teils erschütternde Berichte über ihre durchlittenen depressiven Episoden liefern. Immer wieder las ich dabei die als Ermutigung zu verstehende Aussage: Es geht vorbei – irgendwann zwar, aber es geht vorbei! So wird es auch bei der durch Corona ausgelösten Krise sein: Sie geht vorbei – wir wissen zwar noch nicht wann, aber sie geht vorbei. Dann können wir wieder durchatmen. Und im besten Fall haben wir gelernt, wie man zurechtkommt, wenn die nächste Krise droht. Denn eins ist ebenfalls klar: Auch die Phase des befreiten Durchatmens nach überstandener Coronakrise wird vorbeigehen.

Übrigens: Selbsthilfe-Treffen häufig weiterhin erlaubt!

An dieser Stelle noch folgender Hinweis: In vielen Bundesländern sind trotz Lockdown Gruppentreffen im Rahmen der Selbsthilfe – also auch im Bereich der Sucht-Selbsthilfe – nach wie vor möglich. Eine Übersicht über die einzelnen Regelungen hierzu liefert die Nationale Kontakt und Informationsstelle zur Anregung und Unterstützung von Selbsthilfegruppen (NAKOS) unter https://www.nakos.de/aktuelles/corona/. Dies als weitere Ermutigung für all diejenigen, für die Selbsthilfeangebote ein wichtiger Stützpfeiler zur Suchtbewältigung im Alltag sind.

Über den Autor
Autor Frank Frank
Im Sommer 2018 bin ich von Lifespring mit der Redaktion dieses Blogs betraut worden und der Autor dieses Beitrags. Mein Name ist Frank. Seit vielen Jahren arbeite ich als freier Redakteur, Texter und Lektor. Auch ich habe eine „Suchtkarriere“ durchlebt. Bei mir war es der Alkohol. Seit 7 Jahren bin ich abstinent. Ich will hier nicht den häufig bemühten Himmel-Hölle-Vergleich bemühen. Denn beim Durchleiden meiner Sucht war nicht alles Hölle. Und jetzt, im Zustand der „Enthaltsamkeit“, ist nicht nur der Himmel auf Erden. Trotzdem war der Ausstieg aus einem alkoholschwangeren Leben die beste Entscheidung, die ich in jüngerer Zeit getroffen habe. Ich habe meine Freiheit und einen überwiegend klaren Kopf zurückgewonnen – auch wenn das Weltgeschehen mit nüchternem und enteuphorisiertem Blick nicht immer leicht zu ertragen ist. In diesem Blog möchte ich unter anderem über aktuelle Themen aus der Suchtforschung, aus dem Klinikalltag von Lifespring sowie aus den behandelten Suchtindikationen berichten. Ganz besonders möchte ich aber eins: Sie, als Betroffene oder Betroffenen, und Ihre unter Umständen ebenfalls betroffenen Angehörigen, genau da „abholen“, wo Sie der Schuh beziehungsweise die Sucht drückt.
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