„Jeder Mensch braucht eine Sucht!“ – Ist das so?
Franziska und ihr Weg aus der Sucht
Seit fast zwei Jahren begleite und unterstütze ich eine Person, die mir sehr am Herzen liegt, auf dem Weg aus ihrer Sucht. Nennen wir sie hier „Franziska“. Ihr Weg gleicht einer langen, steilen und kräftezehrenden Treppe. Ich bin dabei lediglich eine Art Geländer. Denn bewältigen muss Franziska diese Treppe letztlich selbst.
Nun rückt ein besonders wichtiger Treppenabsatz in unmittelbare Sichtweite: der Verzicht auf jeglichen Beikonsum. Immer häufiger drehen sich unsere Gespräche daher um die Zeit und mögliche Gestaltung ihres Lebens danach. Diese Gespräche sind offen und ehrlich. Und sie sparen lauernde Fallen und Gefahren keineswegs aus. Insofern ging es zuletzt auch um das Thema „Suchtverlagerung“. In diesem Zusammenhang stellte Franziska die Behauptung auf: „Jeder Mensch braucht eine Sucht!“
Diese Aussage geht mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf. Und ich stelle mir die Frage: Ist das so?
Wie definiert sich eigentlich Sucht?
Wie immer, wenn ich über ein Thema schreibe, versuche ich mir zunächst einmal darüber im Klaren zu werden, was die jeweiligen Begrifflichkeiten bedeuten. Das Blaue Kreuz zum Beispiel greift beim Thema „Sucht“ die folgende Definition der Weltgesundheitsorganisation auf: „Sucht ist das nicht mehr kontrollierbare Verlangen nach einem bestimmten Gefühls-, Erlebnis- und Bewusstseinszustand“. Die Caritas definiert Sucht als „umgangssprachliche Bezeichnung für die Abhängigkeit von einer Substanz oder einem Verhalten“. Und laut Bundesministerium für Gesundheit markiert der Begriff Sucht „nicht nur die Abhängigkeitserkrankungen“, sondern „die Gesamtheit von riskanten, missbräuchlichen und abhängigen Verhaltensweisen in Bezug auf Suchtmittel (legale wie illegale) sowie nicht stoffgebundene Verhaltensweisen (wie Glücksspiel und pathologischer Internetgebrauch)“.
Zahlen zum Thema „Sucht“
Diese kurze Übersicht zeigt bereits: Das Begriffsverständnis variiert, und dementsprechend ist der Blickwinkel dabei unterschiedlich weit gefasst. Insofern sind auch die Zahlen, die das Bundesgesundheitsministerium in diesem Zusammenhang für Deutschland nennt, nur bedingt aussagekräftig. So sind rund 12 Millionen Menschen Nikotin-süchtig. 1,6 Millionen können vom Alkohol nicht lassen und geschätzt 2,3 Millionen Menschen sind abhängig von Medikamenten. Rund 600.000 Menschen konsumieren in problematischer Form Cannabis und andere illegalen Drogen. Gut 500.000 Menschen legen ein zwanghaftes Glücksspielverhalten an den Tag und etwa 560.000 Menschen gelten als onlineabhängig.
Das sind ohne Frage ernstzunehmende und stattliche Zahlen. Aber selbst, wenn man sie zusammenzieht, ist man von der Bewahrheitung der Behauptung „Jeder Mensch braucht eine Sucht!“ noch weit entfernt.
„Eine Sucht zu befriedigen, kann auch Freude bereiten und etwas Schönes sein. Wie ist das zu verstehen?
Selbstverständlich haben auch Franziska und ich darüber diskutiert, was unter „Sucht“ zu verstehen ist und hierunter fällt. Sie warf in diesem Zusammenhang ein: „Eine Sucht zu befriedigen, kann auch Freude bereiten und etwas Schönes sein. So sehnt sich jeder Mensch nach Liebe. Insofern ist auch Liebe eine Sucht.“ Ja, in der Tat, da ist etwas dran. Denn gäbe es die Dreiheit von Liebe, Sucht und sehnen nicht, wäre die Poesie um ein Vielfaches ärmer an Werken. Ein anschauliches Beispiel hierfür liefert das folgende Gedicht von Adelbert von Chamisso, einem Vertreter der deutschen Romantik:
Sterne und Blumen,
Blicke, Atem,
Töne!
Durch die Räume ziehen,
ein Ton der Liebe.
Sehnsucht!
Mit verwandten Tönen
sich vermählen,
glühen,
nie verhallen
und die Blumen
und die Sterne lieben.
Gegenliebe!
Sehnsucht!
Negative Beiklänge überwiegen dennoch
Darf man „Sucht“ auf diese Weise in einen vollkommen anderen, fast schon verklärenden Kontext stellen? Nun, Fakt ist: Es gibt im Deutschen viele Wörter, die auf „sucht“ enden und dieses Metier damit in unterschiedlichste Zusammenhänge setzen. Einige davon liefern Bezeichnungen für Erkrankungen, die mit dem Thema „Sucht“ im engeren Sinn nichts zu tun haben, wie Gelbsucht, Fettsucht (umgangssprachlich für Adipositas) und Schwindsucht (umgangssprachlich für Tuberkulose). Andere wiederum beschreiben Charaktereigenschaften, wie Habsucht, Eifersucht, Rachsucht, Herrschsucht oder Verschwendungssucht. Oder es werden, wie zum Beispiel bei „Tobsucht“, momentane Gefühlszustände umrissen. Doch zugegeben, all diese Beispiele sind negativ konnotiert.
„Leidenschaft“ und „Passion“ als positiv besetzte Synonyme
Auf Anhieb erscheint Sehnsucht die einzige Variante, mit der sich vorteilhaftere Assoziationen verbinden – und auch nur dann, wenn die Sehnsucht gestillt wird oder zumindest eine Aussicht darauf besteht. Denn auf Dauer unbefriedigte Sehnsucht erzeugt Leidensdruck und wirkt somit ebenfalls eher belastend.
Wirklich positivere Beiklänge finden sich erst unter den Synonymen für Sucht. Der Duden nennt zum Beispiel Leidenschaft und Passion. Hiermit kann ich mich persönlich schon mehr anfreunden. Und hieran anknüpfend würde ich die von Franziska aufgestellte Behauptung „Jeder Mensch braucht eine Sucht!“ etwas anders ausdrücken: „Jeder Mensch braucht eine Leidenschaft oder Passion, etwas, wofür er sich begeistert und wofür er „brennt“.
Der Leere beim Entzug entrinnen
Wie wichtig das ist, zeigt sich besonders in einer Phase, in der man dabei ist, den Entzug von einem Suchtmittel zu vollenden. Denn dies bringt zwangsläufig eine gewisse Leere im Leben von Betroffenen mit sich, da Beschaffung, Konsum und Erholung keine Zeit mehr beanspruchen. Somit fällt das, worum sich ein Großteil des Alltags eines Süchtigen bisher gedreht hat, plötzlich weg. Diese Lücke gilt es nun mit neuen oder wieder entdeckten Passionen zu füllen. Anderenfalls droht der Versuch, dem bisher allein von Suchtbefriedigung geprägten Gedankenkreislauf zu entfliehen, zu scheitern.
Die entscheidende Frage ist dabei natürlich, wofür man nun neu entflammt beziehungsweise welche in Vergessenheit geratene Leidenschaften man wieder entdeckt. Dabei dürfte sich eins von selbst erklären: Die „Begeisterung“ für ein anderes Suchtmittel oder das suchtähnlich besessene Nachgehen eines neuen „Interesses“ kann es nicht sein. Denn das wäre genau das, was man unter Suchtverlagerung versteht, und bringt einen letztlich keinen Schritt weiter.
Suchtverlagerung: eine reale Gefahr, die zu wenig beachtet wird
Jede oder jeder, der Sucht schon persönlich erlebt hat, weiß, dass die Gefahr der Suchtverlagerung während und nach einem Entzug sehr real ist. Schon der Mitbegründer der Anonymen Alkoholiker (AA), Bill W.[1], liefert hierfür ein anschauliches Beispiel: Er schaffte es zwar, dem Alkohol zu entsagen und die letzten 36 Jahre seines Lebens trocken zu bleiben. Doch er verstarb letztlich an den Folgen seiner Nikotinabhängigkeit. Umso verwunderlicher finde ich es, dass das Phänomen der Suchtverlagerung im Netz eher wenig aufgegriffen wird und man Zahlen zu seiner Häufigkeit und Verteilung vergeblich sucht.
„Jeder Mensch braucht eine Leidenschaft oder Passion, etwas, wofür er sich begeistert und wofür er „brennt“.
Nun wird es Bill W. bei weitem nicht gerecht, wenn man seinen „trockenen“ Lebensabschnitt nur unter dem Aspekt der Suchtverlagerung betrachtet. Denn während seine Trinkexzesse ihm viele Misserfolge in Studium und Beruf bescherten, hinderte ihn seine nach dem Entsagen vom Alkohol verbliebene Nikotinsucht nicht daran, Bahnbrechendes für die Suchthilfe zu leisten. Möglich wurde dies, weil er die Spiritualität für sich entdeckte. Sie gab ihm Halt beim Aufrechterhalten seiner eigenen Abstinenz und Kraft für seinen unermüdlichen Einsatz, anderen Menschen ebenfalls zum Alkoholverzicht zu verhelfen. Und sie inspirierte ihn zur Mitverfassung des 1939 unter dem Titel „Alcoholics Anonymous“ verfassten 12-Schritte-Programms, welches der Bewegung dann ihren Namen gab.
Insofern liefert die Biografie von Bill W. nicht nur ein Beispiel für Suchtverlagerung, sondern auch für das, was ich meinte, als ich weiter oben schrieb: „Jeder Mensch braucht eine Leidenschaft oder Passion, etwas, wofür er sich begeistert und wofür er „brennt“. Denn Bill W. fand über die Brücke der Spiritualität zu einem neuen, sinnstiftenden Lebensinhalt und zu seiner eigentlichen Bestimmung – mit anderen Worten also zu etwas, wofür er brennt.
Den Stier bei den Hörnern packen
In den Anfängen meiner Alkoholabstinenz habe ich auch einmal an einem Treffen der AAs teilgenommen. Und ich muss gestehen, dass mich die stark spirituelle Einfärbung des Programms überhaupt nicht angesprochen hat. Im Gegenteil, den von einem geradezu missionarischen Eifer geprägten Grundtenor dieser Agenda lehne ich ab.
So heißt es dort unter anderem, dass man den eigenen Problemen gegenüber machtlos sei und nur der Glaube an Gott Heilung verspreche. Das sehe ich komplett anders: Man ist gegenüber eigenen Problemen nicht machtlos! Ich selbst habe zum Beispiel meine eigene Abhängigkeit, zwei Krebserkrankungen, meine extreme Höhenangst, meine Depressionen und viele weitere Probleme in den Griff bekommen. Das konnte mir – neben einer großen Portion Glück – nur gelingen, weil ich meine Baustellen angegangen bin und bildlich gesprochen den Stier jeweils bei den Hörnern gepackt habe. Ob Spiritualität dabei einen Beitrag leisten kann, solcher Probleme Herr zu werden, halte ich nicht von vorneherein für ausgeschlossen. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden und herausfinden.
Dem Herzen und der eigenen Bestimmung folgen
In einer Hinsicht begrüße ich aber den von den Anonymen Alkoholikern verfolgten Ansatz: anderen Menschen Hilfe bei ihrem Weg aus der Sucht anzubieten. Das ist auch für mich ein stückweit zum neuen Lebensinhalt geworden. Insofern habe ich Franziskas Kampf bis zu einem gewissen Grad zu meinem Kampf gemacht.
Natürlich spielen dabei ebenso Liebe und Zuneigung eine Rolle. Darüber hinaus bin ich für sie in der Kontrolle meiner eigenen Sucht ein Vorbild. Außerdem trage ich zu einem stabilen sozialen Umfeld bei. Dass ich dabei häufiger an persönliche Grenzen und darüber hinaus gehe, verstehen viele aus meinem Freundeskreis nicht und kritisieren mich dafür. Dabei klingen immer wieder auch Vorurteile gegenüber abhängigkeitskranken Menschen an. Natürlich haben meine Freunde recht, wenn sie einwerfen, dass man auf sich selbst achten muss und sich nicht verlieren darf. Dennoch bin ich im Laufe der Zeit müde geworden, mich für mein Engagement bei Franziska ständig zu rechtfertigen. Denn auch ich muss letztlich meinem Herzen und dem folgen, was ich für meine Bestimmung halte.
Wofür möchte Franziska künftig „brennen“?
Kommen wir zurück zu Franziska. Welche neuen Pläne für die Zeit nach ihrem Konsum schmiedet sie? Wofür möchte sie künftig „brennen“?
Zum Beispiel möchte sie wieder mehr ihren künstlerischen Neigungen im Bereich Malen und Fotografieren nachgehen. Sie beabsichtigt, sich wieder mehr ihrer Leidenschaft für den Pferdesport zu widmen. Sie liebt Katzen und möchte wieder einen Felltiger in ihr häusliches Umfeld aufnehmen. Sie will sich beruflich in Richtung Gartenbau weiterbilden. Und sie will über ihre 15 Jahre währende „Drogenkarriere“ schreiben. Ob und inwieweit sie in diesem Rahmen einen neuen Lebensinhalt und ihre eigentliche Bestimmung findet, wird die Zukunft zeigen. Denn auch auf dieser „Treppe“ kann ich nur Geländer sein. Und vertrauensvoll hoffen, dass sich ihre neuen Passionen nicht wieder in Richtung „Sucht“ entwickeln.
„Hoffnung ist der Glaube an eine bessere Zukunft.“ In diesem Sinn des vom albanischen Physikprofessor und Journalisten Gjergj Perluca geprägten Ausspruchs zähle auch ich zur Gemeinde der „Gläubigen“.
[1] Sein vollständiger Name wurde postum von einigen Journalisten – entgegen dem ausdrücklichen von ihm verfochtenen Prinzip der Anonymität – veröffentlicht. Da ich dieses Prinzip hier respektieren möchte, belasse ich es bei der Nennung des von ihm selbst zu Lebzeiten verwendeten Namenskürzels.