Muss es immer „Rückfall“ heißen?
„Kelly Osbourne ist rückfällig geworden – nach vier Jahren ohne Alkohol!“ So lautete vor einigen Tagen eine der Schlagzeilen mehrerer Nachrichtenportale und Boulevardmedien. Bekannt geworden ist Kelly Osbourne als Tochter von „Godfather of Metal“ Ozzy Osbourne in der Dokusoap „The Osbournes“. Deren Ausstrahlung erreichte zwischen 2002 und 2004 Kultstatus. Kelly zahlte dafür einen hohen Preis. Denn sie verfiel während des Drehs der Sendung dem Alkohol. Nun hat sie es vier Jahre ohne zu trinken geschafft, und ich frage mich: Warum spricht man nach so langer Abstinenz noch immer von einem Rückfall? Ist das wirklich angemessen und hilfreich? Hierzu will ich mir im Folgenden einige Gedanken machen. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist dabei – wie immer in diesem Blog – persönliches Erleben.
Bezeichnung „Rückfall“ nach 13 Jahren Abstinenz – das stört mich
Während der letzten Weihnachtsferien habe ich selbst einen zweiwöchigen Aufenthalt als Patient in der privaten Suchtklinik Lifespring in Bad Münstereifel verbracht. Der Grund war nicht ein Rückfall, sondern ein vorbeugendes Refreshing nach einem für mich in vielfacher Hinsicht schwierigen Jahr. Auch wenn das Thema „Rückfall“ für mich daher nicht ganz so oben auf der therapeutischen Agenda rangierte wie bei meinen Mitpatienten, war es in den gemeinsamen Therapiestunden omnipräsent. Dazu muss man wissen, dass viele meiner Leidensgenossen als „Wiederholungstäter“ da waren, also ein gerade vorausgegangener Rückfall der Grund für den Aufenthalt bei Lifespring war. Insofern ist es nachvollziehbar, dass das Rückfallrisiko, die Angst davor sowie die Vermittlung von Strategien, wie man dem möglichst wirkungsvoll begegnet, zu den beherrschenden Gesprächsstoffen in den Gruppensitzungen zählte.
In diesem Zusammenhang machte wiederholt der Bericht über eine einige Wochen zuvor bei Lifespring behandelte Patientin die Runde. Sie hatte nach 13jähriger Abstinenz einen Rückfall erlitten. So etwas schockiert und verunsichert natürlich – auch mich. Dennoch stoße ich mich daran, nach so langer Abstinenzphase von einem Rückfall zu sprechen. Warum? Nun, was mich am Begriff „Rückfall“ stört, ist, dass er den Blickwinkel von vorneherein nur auf den Aspekt des Misslingens lenkt. Außerdem ist er im Zusammenhang mit Suchterkrankungen sehr negativ konnotiert. So schwingt bei seiner Verwendung immer etwas von persönlichem Versagen, Disziplinlosigkeit oder Mangel an gutem Willen mit. Auch weckt er im Hinblick auf die Bewältigung einer Suchterkrankung die Assoziation eines „Rückschritts“. Das führt in meinen Augen zu einer viel zu starken Entwertung der Leistung und Ressourcen, die zum Beispiel hinter einer 4jährigen oder erst recht 13jährigen Abstinenz stecken.
Negative Konnotation des Begriffs „Rückfall“ ist überholungsbedürftig
Entsprechend resigniert und demoralisiert wirken Rückfallpatienten. Viele von Ihnen zermartern sich geradezu mit Selbstvorwürfen. Dies habe ich während meines oben genannten Aufenthalts mehrfach aus nächster Nähe miterleben können. Angesichts dieser Erfahrung frage ich mich: Wie soll so der Anlauf zu einer erneuten, von Selbstwertgefühl und Selbstfürsorge getragenen Abstinenz gelingen?
Ich finde, die hier dargestellte Konnotation eines Rückfalls weist viel zu sehr in eine Zeit, in der zum Beispiel eine Alkoholsucht noch als Zeichen persönlicher Schwäche galt. Dieses Verständnis von Abhängigkeit gilt in der aktuellen Suchtmedizin längst als überholt. Heute ist eine stoffgebundene Sucht als Krankheit anerkannt, zu deren Charakteristika eben auch das Risiko des Rückfalls zählt. Experten gehen heute sogar noch einen Schritt weiter und vertreten die Auffassung: Der Rückfall kann durchaus auch ein konstituierender Zwischenschritt auf dem Weg zur dauerhaften Abstinenz sein. Ein Rückfall muss also keineswegs automatisch ein Rückschritt sein. Mal abgesehen davon, dass Rückfall nicht gleich Rückfall ist. Fachleute differenzieren daher mittlerweile zwischen einem Rückfall und einem Ausrutscher. Ausrutscher soll heißen: Es kommt nicht zu einem erneut anhaltenden Kontrollverlust und man hört daher wieder sehr schnell auf, das Suchtmittel weiter zu konsumieren.
Gibt’s es alternative Begrifflichkeiten?
Wäre es von daher nicht angemessen, einschlägige Begrifflichkeiten, wie die des „Rückfalls“, neu zu denken und vom Ballast eines überholten Suchtverständnisses zu befreien? Und wäre es von daher nicht konsequent, sich nach begrifflichen Alternativen umzuschauen?
Es gibt andere Krankheiten, für die die Möglichkeit des Wiederaufflammens der jeweils spezifischen Symptomatik und damit einhergehender charakteristischer Verhaltensmuster ebenfalls typisch ist. Nehmen wir zum Beispiel die Depression. Hier spricht man allerdings im Zusammenhang mit dem erneuten Auftreten akuter Beschwerdephasen von Episoden. Eine Episode kann von unterschiedlicher Zeitdauer sein und dementsprechend zum Beispiel ein paar Wochen, aber auch einige Monate anhalten. Zwischen den Episoden können depressive Patienten völlig beschwerdefrei sein. Diese Intermezzi können ebenfalls unterschiedlich lang und nicht selten sogar über Jahre währen. Von einem Rückfall spricht man bei einer Depression in der Regel nur, wenn sich die Beschwerden nach dem Ende einer Episode sehr schnell wieder einstellen. In diesem Sinn handelt es sich dann auch wohl eher um das vermeintliche Ende einer Episode. Das heißt: Ein Rückfall ist bei einer Depression eher im Sinne einer Fortsetzung einer Episode nach nur kurzer „Atempause“ zu verstehen.
Vom „Rückfall“ zur „Suchtepisode“
Wäre diese begriffliche Herangehensweise nicht auch eine geeignete Option für Suchterkrankungen? Man würde von einem Rückfall also nur noch im Fall einer sehr kurz währenden Abstinenzphase reden. Bei einer 4jährigen und erst recht nach einer 13jährigen Abstinenzphase hingegen würde man statt von einem Rückfall von einer neu aufgetretenen Suchtepisode sprechen. Damit hätte man auch gleichzeitig eine gute Abgrenzung zum zeitlich deutlich kürzer bemessenen „Ausrutscher“.
Dies alles hier soll keine Wortklauberei sein, sondern zielt ausschließlich auf den folgenden Vorteil ab: Die Bezeichnung „Suchtepisode“ ist im Vergleich zum Begriff „Rückfall“ bei weitem nicht so stark vorbelastet und mit dem Makel des Misslingens, des persönlichen Versagens, der Disziplinlosigkeit oder des Mangels an gutem Willen versehen. Er ist schlicht und ergreifend neutral. Außer, das ihm vielleicht der Beigeschmack von etwas Vorübergehenden anhaftet. Aber das wäre in diesem Zusammenhang ja eher eine positiv zu bewertende Konnotation.
Auch eine „Suchtepisode“ erfordert selbstkritische Aufarbeitung
Damit hier keine Missverständnisse entstehen: Das Werben für diese neue Begrifflichkeit soll keinesfalls ein Plädoyer dafür sein, dass eine selbstkritische Aufarbeitung des beispielsweise erneuten Griffs zur Flasche nun unterbleiben könne. Auch wenn man die Bezeichnung „Episode“ wählt, wird es sich nicht von selbst wieder richten, nur weil dem Begriff etwas Vorübergehendes anhaftet. Denn man kommt auch bei dieser Begriffswahl nicht an der Erkenntnis vorbei, dass beim erneuten Auftreten einer Suchtsymptomatik irgendetwas schiefgelaufen ist. Und genau dies gilt es ins Bewusstsein des Betroffenen zu rücken und – im besten Fall therapeutisch begleitet – so rasch wie möglich wieder zu ändern. Aber sich selbst für den erneuten Suchtmittelkonsum – vor allem nach längere Enthaltsamkeit – vollends fertig zu machen , ist für die Etablierung einer erneuten Abstinenz wahrlich nicht hilfreich.
Neutralere Terminologie und schnelle Hilfe
Deshalb zum Abschluss hier mein Appell: Wenn eine neutralere Terminologie einen Beitrag dazu leisten kann, einer destruktiven Demoralisierung nach erneutem Suchtmittelkonsum entgegenzuwirken, sollte man diese Möglichkeit künftig nutzen. Nicht umsonst propagiert die deutsche Hauptstelle für Suchtfragen e. V.: Ein Rückfall muss keine Katastrophe sein. Und eine erneute Suchtepisode nach einer langwährenden Abstinenzphase eben auch nicht – zumindest, sofern man schnell fachliche Hilfe in Anspruch nimmt!