Versuch eines neuen Blicks auf hohe Alkohol-Rückfallrate
Viele Menschen kennen das Bild mit dem Glas Wasser, welches zu 50 Prozent befüllt ist. Ist es halb voll oder halb leer? – Ein- und derselbe Zustand und zwei dennoch völlig unterschiedliche Betrachtungsweisen. Nimmt man es als Metapher für eine bestimmte Lebenshaltung, wird einem die Dimension dieses Unterschieds erst so richtig klar. Nun soll es hier nicht um Wasser, sondern um Alkohol gehen. Doch auch in diesem Zusammenhang kann eine Anwendung dieses Bilds hilfreich sein – sehr hilfreich sogar, wenn man diese Anwendung etwas abwandelt. Doch dazu muss ich zunächst etwas weiter ausholen.
Ernüchternd hohe Rückfallrate bei Alkohol
Vor einiger Zeit habe ich einen Ratgeber zur Nachsorge bei Suchterkrankungen im Anschluss an einen Entzug geschrieben. Warum ist der Bereich der Nachsorge so exorbitant wichtig? Hierzu eine Zahl: Laut der fachmedizinischen S3-Leitlinie zur Behandlung alkoholbezogener Störungen werden 83 Prozent der Patienten in den ersten sechs Monaten nach einem Entzug wieder rückfällig[1]. Diese Zahl muss man erst einmal sacken lassen, denn sie ist im wahrsten Sinn des Wortes ernüchternd. Zwar sind die Daten im Rahmen der sogenannten Katamnese[2] von Suchtbehandlungen bei Alkoholabhängigkeit recht uneinheitlich. Die Tendenz indes ist eindeutig: Die Rückfallraten an sich sind trotz aller therapeutischer Bemühungen insgesamt gesehen unbefriedigend hoch.
Hierüber habe ich zuletzt auch mit Dr. Martin Weinand einen regen Gedankenaustausch gehabt. Er deckt bei Lifespring nach dem Tod von Gründer Dr. Christian Schneider die wissenschaftliche Expertise der Suchtbehandlung ab. Sein Resümee bei diesem Gedankenaustausch: Auch die Sucht- und Pharmaforschung hat noch keinen durchschlagenden Anpack gefunden hat, um diese hohe Rückfallquote zu senken.
Warum immer nur auf die „schielen“, die es nicht schaffen?
Mich hat dieses Thema seitdem nicht mehr losgelassen, und ich habe mir viele Gedanken dazu gemacht. Nun wäre es sicher sehr anmaßend von mir, wenn ich dabei so eine Art Revolutionierung der Suchtforschung anpeilen würde. Aber als ausgebildeter Geistwissenschaftler habe ich es gelernt, auch zu eigentlich mir fachfremden Thema strukturierte und systematische Überlegungen anzustellen und dabei neue Blickwinkel zu eröffnen. Denn wenn man auf der Stelle tritt und nicht weiterkommt, wie es anscheinend bei der Bekämpfung des hohen Rückfallrisikos der Fall ist, muss man etwas ändern – und zwar grundlegend. Insofern habe ich mich gefragt: Warum „schielen“ die Behandler und Forschenden im Kontext mit dem hohen Rückfallrisiko bei Alkoholkranken eigentlich immer nur auf die 83 Prozent? Also auf diejenigen, die es nicht – zumindest nicht im ersten Anlauf – schaffen?
Warum nicht die abstinent Gebliebenen in den Fokus zu rücken?
Hier kommt nun das eingangs erwähnte Bild mit dem Glas Wasser ins Spiel. Nehmen wir zum Beispiel die 83 Prozent Rückfälligen als halb leeres Glas und die 17 Prozent, die abstinent geblieben sind, als halb volles Glas. Natürlich hinkt dieser Vergleich, da sich die beiden genannten Prozentzahlen eben leider nicht in der Waage befinden. Denn das wäre bei der Senkung des Rückfallrisikos ja bereits ein gewaltiger Fortschritt. Aber man könnte die Bewertung, die sich aus der Bezeichnung „halb voll“ ableiten lässt, auf die 17 Prozent übertragen und zu der Deutung kommen: Immerhin gibt es diesen Anteil, der die ersten sechs Monate nach einem Entzug ohne Rückfall übersteht. Diese Deutung könnte man des Weiteren mit den beiden folgenden Fragen verbinden: Lohnt es sich nicht, viel stärker diese 17 Prozent in den Fokus zu rücken? Und was läuft beziehungsweise ist bei diesen 17 Prozent – im Detail gesehen – anders als bei den 83 Prozent, die wieder zur Flasche greifen?
Was machen die nicht rückfällig Gewordenen anders?
An den Zahlen ändert sich durch diese Betrachtungsweise natürlich zunächst einmal nichts. Sie sind so, wie sie sind. Aber der Blickwinkel ist ein anderer. Und genau darauf will ich hinaus. Man schaut auf die 17 Prozent, fragt sich, was sie anders machen, versucht hieraus zu lernen und neue Anhaltspunkte für therapeutische Strategien zur Senkung des Rückfallrisikos bei Alkoholabhängigkeit zu gewinnen. Dabei ist die Anwendung eines solchen „Tricks“ in der Medizin keineswegs neu. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang zum Beispiel an die Frühphase der Aidsforschung, als man bei der Suche nach einer effektiven Therapie noch weitgehend im Dunklen tappte. In dieser Zeit erregten vereinzelte Berichte über Fälle, in denen dennoch eine vollständige Genesung festgestellt werden konnte, ein besonderes Interesse. Denn man erhoffte sich, aus solchen Spontanremissionen, also Heilungen ohne therapeutisches Eingreifen, wichtige Anhaltspunkte für die Entwicklung einer wirkungsvollen Behandlung zu gewinnen.
Ein Beispiel: meine eigene Geschichte
Nun kann ich mich selbst glücklicherweise auch zu denjenigen zählen, die es bisher ohne Rückfall geschafft haben. Insofern möchte ich hier kurz berichten, was ich gemacht habe, um vom Alkohol loszukommen und diesen Zustand zu stabilisieren.
Ich muss in meinem Leben etwas ändern!
Ich erinnere mich wie heute daran: Wie ein begossener Pudel stand ich am Vormittag des 22. Oktobers 2014 im Türrahmen des Arbeitszimmers meiner Frau. Sie saß am Schreibtisch, weinte und machte mir eine herzzerreißende Szene. Zu Recht, denn vorausgegangen war am 21. Oktober ein kapitaler Absturz – mal wieder. In diesem Moment machte es in meinem Kopf regelrecht „klick“ und ich wusste: Ich muss in meinem Leben etwas ändern. Sie lesen richtig – mein Gedanke bei diesem Klick war nicht: Ich muss mit dem Alkohol aufhören, sondern in der Tat: Ich muss in meinem Leben etwas ändern. Dies ist ganz wichtig. Denn es bringt überhaupt nichts, nur die suchtauslösende Substanz wegzulassen. Natürlich ist das ein erster eminent wichtiger Schritt. Aber wenn mehr nicht passiert beziehungsweise in Angriff genommen wird, läuft ein solcher Ansatz ins Leere.
Intensive Auseinandersetzung mit diesem Ziel im Vorfeld
Doch zurück zum ersten Schritt: Vom 22. Oktober an habe ich bis heute keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr angerührt. Viele meiner Freunde und Bekannten zeigten sich beeindruckt. Denn auf sie wirkte es so, als wenn es mir gelungen wäre, den Schalter zur Abstinenz von heut auf morgen umzulegen. Das stimmt natürlich so keinesfalls. Denn dem oben geschilderten Klick war ein Zeitraum von mindestens rund zwei Jahren intensiver geistiger Beschäftigung mit dem Thema Alkohol, Sucht und Aufhören vorausgegangen. Ich hatte vorher schon längst gemerkt, dass mein Trinkverhalten aus dem Ruder gelaufen war. Ich sprach hierüber auch ganz offen mit meiner Frau. Doch erkennen und handeln sind leider zwei unterschiedliche paar Schuhe. Immerhin habe ich mir in dieser Zeit viel angelesen und angeschaut über die schädlichen Auswirkungen eines exzessiven Alkoholkonsums, über die Anzeichen und Strukturen der Sucht sowie über Ansatzpunkte und Strategien, um eine Alkoholabhängigkeit in den Griff zu bekommen.
Der Versuch des „Kontrollierten Trinkens“ – krachend gescheitert!
Mit Freude hatte ich zum Beispiel vom Konzept des „Kontrollierten Trinkens“ gehört und für mich gedacht: Das ist es. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht so weit, dem Alkohol komplett und für immer zu entsagen. Doch der Versuch des Kontrollierten Trinkens ist, ich muss es rückblickend leider so schreiben, krachend gescheitert. Schaffte ich es, in der Woche nichts zu trinken, war es am Wochenende um so mehr. Gelang es mir, wie zum Beispiel in der Fastenzeit nach Karneval, eine mehrwöchige Trinkpause einzulegen, erhöhte sich nach Wiederaufnahme des Alkoholkonsums meine tägliche Trinkmenge gegenüber dem Zeitraum von vor der eingelegten Trinkpause. Und wenn ich erst einmal das erste Glas intus hatte, gab es sowie kein Halten mehr. Dann trank ich ohne Maß und Ziel. Mein Ausspruch: „Da geht noch was!“, wenn meine „Saufkumpanen“ bereits die Segel strichen, wurde so etwas wie mein Markenzeichen.
Bittere Erkenntnis: Es geht nur, wenn ich komplett aufhöre
Die regelmäßig sich hieran anschließenden Abstürze zogen mich natürlich erst einmal herunter. Doch sie stärkten auch jedes Mal aufs Neue meine Motivation und meinen Willen, hieran etwas zu ändern. So langsam dämmerte mir, dass ich kein Kandidat fürs Kontrollierte Trinken sei, sondern dass ich mein Suchtproblem nur in den Griff bekäme, wenn ich komplett mit dem Trinken aufhören würde. Das war eine mühsam gereifte und für mich bittere Erkenntnis, da ich das Trinken lange Zeit als unverzichtbaren Bestandteil meiner persönlichen Genusskultur und Lebensqualität ansah. Doch die Scham über meine zunehmenden Kontrollverluste und Abstürze und der ebenso zunehmende Suchtdruck ließen für mein Genussempfinden beim Trinken kaum noch Platz.
Nicht ohne meinen (Haus)Arzt
Also nahm ich schließlich meinen Hausarzt mit ins Boot und teilte ihm im Frühjahr 2014 mit, dass ich anstrebte, vom Alkohol gänzlich loszukommen. Er schlug zunächst eine von ihm ärztlich begleitete zweiwöchige Abstinenz auf Probe vor, um zu sehen, ob und wenn ja, wie stark Entzugssymptome aufträten. Von leichten Schweißausbrüchen einmal abgesehen, überstand ich diese Phase ganz gut. Auch meine Blut- und Leberwerte waren unauffällig. Dennoch dauerte es noch über ein halbes Jahr mit zahlreichen weiteren Abstürzen, bis ich den Sprung zum kompletten Alkoholverzicht – wie oben beschrieben – schaffte.
Medikamentöse Unterstützung
Um meinen Durchhaltewillen für die rund ersten sechs alkoholfreien Wochen abzusichern, nahm ich in Absprache mit meinem Hausarzt Baclofen. Es gab damals einen gewissen Hype über seine OFF-Label-Anwendung[3] zur Unterstützung von Entzug und Entwöhnung. So hatte zum Beispiel der WDR eigens eine Sendung im TV hierzu gezeigt, die ich mir natürlich mit großem Interesse angeschaut hatte. Heute wird der Einsatz von Baclofen in diesem Kontext allerdings eher zurückhaltend bewertet, so etwa von den besagten S3-Leitlinien. Denn es gibt nach wie vor keine ausreichenden Studiennachweise für seine Wirksamkeit. Doch mir schien Baclofen immerhin nicht zu schaden. Vielleicht tat auch der sogenannte Placeboeffekt das Seine dazu. Auf jeden Fall funktionierte es und ich überstand die ersten sechs Wochen ohne nennenswerte Probleme. Anschließend fühlte ich mich so stabil, dass ich das Präparat absetzen konnte.
Meine Erfahrung mit dem AAs
Während dieser sechs Wochen besuchte ich auch ein Treffen der Anonymen Alkoholiker. Es blieb allerdings bei diesem einem Besuch. Das Ganze war mir zu spirituell verbrämt. Ich war nicht auf der Suche nach einer neuen spirituellen Orientierung, sondern wollte meine Alkoholprobleme in den Griff bekommen. Auch gefiel mir nicht, wie dort mit Triggern[4] umgegangen wurde. So berichtete der Moderator des Meetings, dass er nach über 10jähriger Abstinenz noch immer einen TV-Kanal wechsele, wenn dort Alkohol getrunken würde. Mit war sofort klar, dass es das für mich nicht sein könne. Denn wie soll man in einer Großstadt wie Köln komplett allen Trinktriggern aus dem Weg gehen? Das hielt und halte ich auch heute noch für unmöglich.
Bewusste Konfrontation mit Triggern
Stattdessen wählte ich für mich den gegensätzlichen Weg: den der bewussten Konfrontation mit Triggern. Ich hatte Anfang 2000 über zwei Jahre hinweg eine sogenannte Konfrontationstherapie gegen meine Höhenangst gemacht. Dabei handelt es sich um einen verhaltenstherapeutischen Ansatz, bei dem man sich nach entsprechender Vorbereitung gezielt höhenangstauslösenden Reizen und Situationen aussetzt. Durch ständiges Wiederholen und Üben überwindet man die Höhenangst – wenn auch zunächst nur in sehr kleinen Schritten. Doch ich ließ nicht locker und kam weiter. Hatte ich früher bereits Probleme, wenn ich mich zum Beispiel irgendwo auf der dritten Etage eines Mehrfamilienhauses aufhielt, konnte ich vor zwei Jahren die Zugspitze besteigen. Es war gewissermaßen der krönende Abschluss meines „Höhenangstprojekts“.
Daher dachte ich mir: Was bei der Höhenangst funktioniert, müsste doch eigentlich ebenso beim Alkohol klappen – zumal ich wusste, dass zum Beispiel die Christian-Dornier-Klinik die Konfrontationstherapie auch bei der Alkoholentwöhnung anwendet. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Sendung über diesen Ansatz, bei der ein Entzugspatient in seinem Zimmer saß und von lauter erlesenen Spirituosen umgeben war. Doch ich wollte mich etwas vorsichtiger an diese Art der Konfrontation herantasten und dies vor allem nicht ohne Betreuung und therapeutische Vorbereitung tun.
Aufnahme einer Psychotherapie
Also begab ich mich nach sechs Wochen Abstinenz in die Hände einer ambulant niedergelassenen erfahrenen Suchttherapeutin. Dass ich mit der Aufnahme einer Psychotherapie sechs Wochen wartete, war kein Zufall. Ich wollte mit meiner sechswöchigen Abstinenz erst einmal gewissermaßen in Vorleistung treten. Damit wollte ich mir selbst beweisen, dass es sich hierbei nicht um eine flüchtige Anwandlung handelt, sondern dass ich es wirklich ernst meine.
Offener Umgang mit meiner Sucht und meinem Plan, aufzuhören
Bei der Therapie ging es unter anderem darum, wie ich mit meinen Freunden und Kameraden aus meinem Karnevalsverein umgehen soll. Ich selbst hatte dabei den Anspruch, die von mir bevorzugten Menschen in meinem Umfeld nach wie vor an Charakter und Herz zu messen, und nicht an ihrem Trinkverhalten. Dennoch traf ich mich mit meinen Karnevalskumpels vorsichtshalber zunächst in einem nicht-karnevalistischen Kontext. Dies war ohnehin einfach, da wir uns in der Vorweihnachtszeit befanden. Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, teilte ich ihnen mit, dass ich von nun an keinen Alkohol mehr tränke. Ich wolle trotzdem versuchen, bei allen gemeinsamen Aktivitäten – vom Trinken einmal abgesehen – mitzumachen. Was ich allerdings nicht erleben wolle, sei ein Animierverhalten nach dem Motto: Komm, ein Glas kannst du doch mittrinken. Sondern ich erwarte gerade von meinen Freunden die volle Akzeptanz meiner Entscheidung. Anderenfalls würde ich mich zurückziehen und aus der Karnevalsgesellschaft austreten. Meine Freunde quittierten mein Outing und meine Entscheidung mit großer Anerkennung. Das ist auch heute noch so.
Erste alkoholfreie Gehversuche im Karneval
Mit Beginn der Session nahm ich dann an ersten Auftritten und Veranstaltungen teil – jedoch immer verbunden mit der Maßgabe, sofort zu gehen, wenn ich merken würde, dass mich die Situation überfordert. Dies war eine der „Erste-Hilfe-Verhaltensweisen“, die ich gemeinsam mit meiner Psychotherapeutin vorsorglich in einen gedanklichen „Notfallkoffer“ gepackt hatte. Aus diesem Grund fuhr ich zu jedem Event mit dem eigenen Auto, um dieses Vorhaben auch umsetzen zu können. Eine weitere Erste-Hilfe-Maßnahme bestand darin, eine oder mehrere Person(en) zu bestimmen, die bildlich gesprochen als „Feuerwehr“ zur Verfügung stünden, sollte der Suchtdruck überhandnehmen. Für den Fall, dass es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen zum Rückfall kommen würde, hatten wir ebenfalls Verhaltensweisen vorbesprochen. Eine bestand darin, so etwas als „Ausrutscher“ anzusehen und den Abstinenzfaden sofort wieder aufzunehmen, anstatt aus Frust darüber dem alten Suchtmuster zu verfallen.
Trotz Notfallkoffer hatte ich dennoch großen Respekt vor der Hochphase des Karnevals zwischen Weiberfastnacht und Aschermittwoch. Vor allem von der Teilnahme am Kneipenkarneval erwartete ich eine maximal mit Triggern angereicherte Situation. Vielleicht wird sich der ein oder andere Leser nun fragen: Warum hat er sich dann so etwas überhaupt angetan? Nun, ich wollte den Stier bei den Hörnern packen und sagte mir damals: Wenn ich das schaffe, schaffe ich auch den Rest. Um es kurz zu machen: Die Rechnung ging auf, das heißt, ich überstand meine erste alkoholfreie Karnevalssession trocken, wenn auch nicht immer ohne innere Anspannung. Diesen Anfangserfolg hatte ich allerdings auch bitter nötig, denn ich hatte noch weitaus größere Herausforderungen zu bewältigen.
Trennung von meiner Frau
Eine große Herausforderung in diesem Sinn war es, sich – in aller Freundschaft – von meiner Frau zu trennen und aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen. Ich kenne meine Frau seit 1985, seit 1987 waren wir ein Paar. Wir haben viel gemeinsam durchgemacht. So etwas schweißt zusammen. Insofern war diese Trennung ein großer Schritt für mich. Dabei machte ich meine Frau keineswegs für meine Alkoholprobleme verantwortlich. Vielmehr hatten sich bei uns beiden zunehmend Unterschiede in unserer persönlichen Entwicklungsdynamik offenbart – und zwar durchaus zu meinen Ungunsten. Denn ich trat schon länger auf der Stelle und stagnierte – sicher auch aufgrund meiner Suchtproblematik. Dadurch war ein Ungleichgewicht entstanden.
Nun hatte ich erkannt, dass dies meinem Selbstwertgefühl massiv schadete und ich wieder mehr auf eigenen Füßen zu stehen kommen musste. Deshalb nahm ich beim Auszug aus der gemeinsam Wohnung, von Kleidung und einigen wenigen persönlichen Sachen abgesehen, nichts mit. Denn ich wollte ganz bewusst einen radikalen Neuanfang. Wie schwer mir dies fiel, lässt sich daran ersehen, dass ich vier Umzüge brauchte, um endlich wieder sagen zu können: Ich bin angekommen und heimisch geworden.
Veränderung meiner Arbeitssituation
Gleichzeitig war mit dem Auszug bei meiner Frau eine einschneidende Veränderung meiner Arbeitssituation verbunden. Denn ich arbeitete bis dahin neun Jahre lang im Homeoffice. Heute liegt das zwar stark im Trend, doch meine Ehe und auch mich selbst hat diese Art der Entgrenzung von Arbeit und Privatsphäre massiv belastet. Insofern war es mehr als folgerichtig, mir ein Büro zu suchen und für die Zukunft auf eine striktere Trennung von Arbeits- und Privatwelt zu achten. Doch auch hier brauchte es drei Umzüge, bis ich das für mich passende räumliche Umfeld gefunden hatte.
Jede Routine auf den Prüfstand
Ebenso stellte ich in dieser Zeit so gut wie alle Routinen auf den Prüfstand – so sehr sogar, dass ich manchmal nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Dies entspricht durchaus meiner Mentalität. Denn wenn ich mich zu etwas durchgerungen habe, ziehe ich es auch konsequent durch. Und schieße dabei bisweilen übers Ziel hinaus. Doch mittlerweile hat sich vieles wieder eingependelt, und es haben sich längst neue Routinen entwickelt, die meinem neuen Leben halt geben. Denn Routinen braucht es, das habe ich in dieser überaus bewegten Lebensphase eben auch gemerkt.
Etablierung neuer Gewohnheiten
Eine neue und ganz wesentliche Routine beziehungsweise Gewohnheit, die mir mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen ist, besteht darin, eben nicht mehr mit einem gewissen Automatismus zum Glas Wein zu greifen, sondern mit gleicher Selbstverständlichkeit zum Becher Kaffee oder Glas Wasser. Dabei vermeide ich durchaus bestimmte Trigger, auch wenn ich in diesem Zusammenhang – wie weiter oben geschildert – auf ein gewisses Maß an Konfrontation setze. Das bedeutet aber eben nicht, dass ich mich nun ohne jegliche Not jedem Trinkreiz aussetze. So betrete ich bis heute kein reines Weinlokal. Auch unternehme ich keine Reisen in überwiegend vom Weinanbau geprägte Regionen. Und wenn nach dem Besuch von Freunden hierfür eigens eingekaufter Alkohol übrigbleibt, entsorge ich ihn zeitnah aus meinem Haushalt.
Sorgfalt und Wachsamkeit bei der Auswahl von Speisen und Getränken
Ebenso achte ich beim Einkauf von Ess- beziehungsweise Trinkbarem penibel darauf, dass nicht die geringste Menge Alkohol enthalten ist. Dies ist übrigens gar nicht immer so einfach. Denn es gibt zum Beispiel sogar Süßigkeiten für Kinder, die ohne ausdrücklichen Hinweis 2 Prozent Alkohol enthalten. Ich komme also nicht umhin, mit Sorgfalt die kleingedruckt angegebenen Ingredienzien auf der Rückseite einer Verpackung zu studieren. Schließlich verwende ich dieselbe Wachsamkeit auf die Auswahl meiner Speisen, wenn ich in einem Lokal oder Restaurant esse.
Neue Prioritäten in der Freizeit
Des Weiteren setze ich heute ganz andere Prioritäten bei der Gestaltung meiner Freizeit. Events, bei denen es rein nur ums „Saufen“ geht, bringen mir nichts mehr. Daher meide ich solche Veranstaltungen. Dadurch hat sich eine gewisse Entfremdung zum Beispiel zu meinen Karnevalskameraden eingestellt. Aber das nehme ich in Kauf. Es ist eben so, wie es ist, und ich lasse mich davon nicht beirren. Denn der Weg, den ich vor nun fast sieben Jahren eingeschlagen habe, hat sich für mich ganz klar als der richtige herauskristallisiert. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden.
Erkenntnisse aus meiner Fallgeschichte
Man muss an vielen Schrauben drehen
Welche Erkenntnisse lassen sich aus meiner Fallgeschichte ableiten, um die bislang unbefriedigende Prognose für die Beibehaltung einer Abstinenz nach einem Entzugs verbessern zu können? Ich glaube, eins sollte bis zu dieser Stelle deutlich geworden sein: Wer auf die eine Wunderpille hofft, die den Schalter zur Abstinenz dauerhaft umlegt und das Suchtgedächtnis nachhaltig tilgt, unterliegt einem Trugschluss. Meine Fantasie reicht nach meinem derzeitigen Wissensstand und meinem hier beschriebenen Erfahrungsschatz nicht aus, um mir das vorstellen zu können – auch für die Zukunft nicht. Vielmehr muss man vielen Schrauben drehen und zu wirklicher Veränderung an vielen Fronten bereit sein.
Bio-psycho-soziales Krankheitsverständnis
Es drängt sich daher eine holistische beziehungsweise ganzheitliche Betrachtungsweise auf. Ohnehin treffe ich immer häufiger beim Schreiben über unterschiedlichste medizinische Themen auf den Begriff des „bio-psycho-sozialen Krankheitsmodells“. Ein solches Krankheitsverständnis wäre sicher auch für die Bekämpfung einer suchtbedingten Abhängigkeit ein Gewinn. Um die Berechtigung einer solchen Adaption nachvollziehen zu können, braucht man sich nur folgendes vor Augen zu halten: In der Suchtforschung werden immer wieder genetisch bedingte Ursachen, also in der Biologie angesiedelte Faktoren diskutiert. Auch ist es weitläufig bekannt, dass soziale Konflikte zum Beispiel in Partnerschaft und/oder Beruf die Ausprägung einer Alkoholabhängigkeit stark befördern können. Und sicher lassen sich erst recht im Bereich der psychischen Entwicklungsgeschichte eines Suchtpatienten zahlreiche Baustellen finden, die es zu bearbeiten lohnt. Nehmen wir zum Beispiel nur einmal das Stichwort „Resilienz“. Hierunter versteht man in der Psychologe die psychische Widerstandskraft und Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. Ich vermute mal, dass viele suchtkranke Menschen, die sich zu diesem Aspekt einmal selbstkritisch hinterfragten, hier sicher noch viel Luft nach oben fänden.
Was bedeutet das für die Nachsorge?
Was bedeutet das für die Nachsorge und die Beibehaltung der Abstinenz im Anschluss an einen Entzug? Nun, ich befürchte, viele werden das nicht gerne lesen. Aber die eigentliche und besonders herausfordernde Arbeit beginnt erst nach der Absolvierung eines Entzugs. Denn nun muss man – wie ich es bereits oben beschrieben habe – zu wirklichen Veränderungen bereit sein. Und diese natürlich auch umsetzen. Ich habe es genauso gemacht und damit Erfolg gehabt. Dabei ist dies für mich bis heute in keinster Weise ein „easy-going“. Auch habe ich den Weg zu meiner Abstinenz nicht im Bewusstsein eines bio-psycho-sozialen Krankheitsverständnisses angetreten. So weit war mein Erkenntnisstand damals bei weitem noch nicht. Aber ich habe doch instinktiv gespürt, dass ich meinen Alkoholproblemen nur beikomme, wenn ich auf breiter Front angreife.
Warum ist die Bereitschaft zur Veränderung so wichtig?
Sie werden sich vielleicht fragen, warum ich so sehr auf den Aspekt einer breit angelegten Veränderung im Sinne eines bio-psycho-sozialen Suchtverständnis poche? Nun, ich habe es selbst erlebt, wie Leidensgenossen von mir felsenfest der Meinung waren, sie müssten es irgendwie schaffen, einfach nur das jeweilige Suchtmittel wegzulassen. Aus eigener Erfahrung kann ich hier nur schreiben: Auch wenn das im Rahmen des geschützten Raums einer Suchtklinik mit ihren festen Strukturen zunächst so funktionieren mag, ist ein solches Bestreben nach Verlassen dieses Raums oft nicht von Dauer.
Wo genau man dabei mit Veränderungen ansetzt, muss man selbst herausfinden – im besten Fall therapeutisch begleitet. Denn gerade das gebündelte therapeutische Angebot einer Suchtklinik im Rahmen eines qualifizierten Entzugs kann beim Aufspüren entsprechender Ansatzpunkte für wünschenswerte beziehungsweise notwendige Veränderungen sehr hilfreich sein. Leider hatte ich damals noch keine Vorstellung vom Leistungsspektrum einer Suchtklinik. Das hätte mir sicher vieles erleichtert. Aber immerhin war ich so gezwungen, von Anfang an sehr viel Eigeninitiative zu entwickeln und gewissermaßen unter sehr realen, ungeschützten Bedingungen zu operieren. Insofern war für mich persönlich der Übergang vom Entzug zur Nachsorge keine besonders große Hürde mehr.
Zu Ende bringen möchte ich meinen heutigen Beitrag mit einem Zitat, welches Albert Einstein zugeschrieben wird:
„Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und zu hoffen, dass sich etwas ändert.“
In diesem Sinn wünsche ich allen Menschen, die im Rahmen der Nachsorge um die Beibehaltung ihrer Abstinenz ringen, dass sie sich von dieser Art des Wahnsinns frei machen können.
Fußnoten:
- [1] S3 Leitlinie “Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen”, AWMF-Register Nr. 076-001, Aktualisierte Version 2020, S. 338
- [2] Als Katamnese bezeichnet man die Beschreibung des Krankheits- und Therapieverlaufs z.B. bei Entlassung aus dem stationären Entzug. Sie enthält auch eine Prognose zur Nachhaltigkeit des Behandlungserfolges.
- [3] Off-Label bedeutet: Es gibt für diese Art der Indikation noch keine offizielle Zulassung.
- [4] Englisch für Auslöser, in diesem Zusammenhang also Reize, die erneuten Suchtdruck und das Verlangen nach Alkoholkonsum auslösen.