Der Morphinentzug bei Säuglingen stellt in zunehmendem Maß eine Aufgabe und Herausforderung in der Behandlung und Betreuung von Neugeborenen dar. Der Grund hierfür ist in der steigenden Zahl drogenabhängiger Frauen im gebärfähigen Alter zu sehen. Es gibt zwar keine genauen Daten zur Einnahme von Drogen bei schwangeren Frauen. Ebenso fehlen exakte Angaben zur Häufigkeit des sogenannten Neonatalen Abstinenzsyndroms (NAS) – hierzu zählen auch die Erscheinungen im Zusammenhang mit dem Morphinentzug bei Säuglingen. Dennoch kann aus einschlägigen Drogenberichten abgeleitet werden, dass ein Viertel der Drogenabhängigen Kinder hat – davon rund die Hälfte mehr als eins.
Man rechnet daher in Deutschland mit mindestens 50.000 – 60.000 Kinder, die von der Drogenproblematik ihrer Eltern in Mitleidenschaft gezogen sind. Dabei ist von einer hohen Dunkelziffer auszugehen. Denn Drogenabhängige leben – aufgrund der Illegalität der von ihnen konsumierten Suchtmittel – oft im sozialen Abseits und sind daher nur schwer in der medizinischen Statistik zu erfassen. Hierin liegt auch eine der Hauptursachen für die unbefriedigende Datenbasis zu diesem Thema begründet. Deshalb mehren sich in der Neugeborenenmedizin die Bemühungen um eine bessere Zahlenbasis und natürlich auch um die Entwicklung wirkungsvoller Therapiestandards beim Säuglings-Entzug.
Warum Morphinentzug bei Säuglingen?
Die allermeisten Neugeborenen, die während der Schwangerschaft Opiaten ausgesetzt waren, entwickeln kurz nach der Geburt ein neonatales Drogenabstinenzsyndrom. Hierunter versteht man in der Medizin eine Kombination von körperlichen Zeichen und Verhaltensauffälligkeiten von Säuglingen infolge des Einwirkens von Suchtstoffen im Mutterleib. Sie entstehen, wenn die Zufuhr der Suchtstoffe nach der Geburt plötzlich nicht mehr gegeben ist.
Die Aufnahme der Opiate erfolgt über die Plazenta (Mutterkuchen). So bezeichnet man fachlich die im Zuge der Schwangerschaft sich ausbildende Gewebeschicht an der Innenwand der Gebärmutter. Der anfängliche Embryo und spätere Fötus ist über die Nabelschnur unmittelbar an den „Mutterkuchen“ und somit auch an den Stoffwechsel der Mutter angebunden. Neben Nährstoffen und Sauerstoff nimmt er auf diese Weise auch die Abbauproprodukte der von der Mutter konsumierten Opiate auf. Bleibt nach der Geburt die Opiatzufuhr aus, führt der gleiche Mechanismus wie bei Erwachsenen zur Entzugssymptomatik: Die Ausschüttung des Stresshormons Noradrenalin durch den Sympathikus entgleist. Entsprechend ist das Abstinenzsyndrom bei Neugeborenen – allerdings unter verschiedenen Ziffern – im Rahmen der ICD-10-Kodierung als behandlungsbedürftiges Krankheitsbild erfasst.
Entzugserscheinungen, Symptome, Nebenwirkungen
Die Ausprägung der Entzugssymptome ist abhängig von der Art und Dauer des mütterlichen Drogenkonsums in der Schwangerschaft. Es macht einen Unterschied, ob die Mutter Heroin oder im Rahmen einer Substitutionsbehandlung Methadon oder Buprenorphin zu sich nimmt. Auch der zunehmende Bei- oder Mischkonsum von zum Beispiel Heroin, Methadon, Alkohol, Benzodiazepinen, Haschisch, Amphetaminen, Kokain und Nikotin wirkt sich aus. Die hieraus resultierende sogenannte Polytoxikomanie ist mittlerweile die Norm und spielt – leider – auch im Rahmen der Substitutionsbehandlung eine immer größere Rolle. Dies kann zur Verzerrung bzw. Verdeckung (z. B. bei Beruhigungsmitteln), aber auch zu einer Verstärkung (z. B. bei Nikotin, Krack, Kokain) und Verlängerung (z. B. bei Methadon gegenüber Buprenorphin) der Entzugssymptomatik bei den betroffenen Neugeborenen führen.
Die Symptome beim neonatalen Abstinenzsyndrom reichen
- von sehr häufigen Erscheinungen (75 -100%), wie Zittrigkeit, erhöhte Muskelspannung, schrilles Schreien und Unruhe ohne erkennbaren Grund, Schlafstörungen, übermäßiges Saugen sowie Kau- und Schluckprobleme bis hin zur Nahrungsverweigerung
- über mittelhäufige (25 – 75%) Auffälligkeiten, wie Erbrechen, Durchfälle, Niesen, Schwitzen und hechelnde Atmung
- bis hin zu weniger häufig (unter 25 %) auftretenden Zeichen, wie Fieber und Krämpfe.
Die Symptome treten in der Regel 40-60 Stunden nach der Geburt auf und erreichen ihre maximale Ausprägung nach rund 92 Stunden.
Darüber hinaus bestehen durch die Opiateinwirkung (Opiatexposition) während der Schwangerschaft erhöhte Risiken für
- eine Frühgeburt,
- ein Gewicht und eine Körperlänge bei Geburt unterhalb der Norm (small for gestational age = SGA) sowie für einen zu kleinen Kopf (Mikrozephalie)
- eine Erkrankung an HIV sowie Hepatitis B und/oder C (aufgrund der erhöhten Infektionsrate bei Drogenabhängigen)
- eine erhöhte Sterblichkeit (z. B. durch plötzlichen Kindstod) vor allem im ersten Lebensjahr.
Weitere Probleme entstehen aus der vielfältig bedingten Labilität, die bei drogenabhängigen Müttern in der Regel anzutreffen ist. Sie betrifft zum Beispiel die eigene angeschlagene Gesundheit, den unsicheren sozialen Status, das Unvermögen, die Mutterrolle angemessen an- und wahrzunehmen oder normale Muttergefühle dem eigenen Kind entgegenzubringen. Dies beeinträchtigt die Entwicklung des Neugeborenen in vielerlei Hinsicht (z. B. verzögerte Sprachentwicklung).
Wie kann man die Entzugserscheinungen lindern?
Bei der Behandlung des neonatalen Abstinenzsyndroms fehlt es bislang an einheitlichen Therapiestandards. Ein anschauliches Beispiel dafür, solche Standards zu etablieren, ist allerdings das sogenannte „Lübecker Modell“. Die folgende Beschreibung der zur Verfügung stehenden Behandlungsoptionen orientiert sich daher hieran. Danach wird grundsätzlich jedes Neugeborene einer drogenabhängigen Mutter umgehend zur stationären Aufnahme in die Kinderklinik eingewiesen. Als erstes wird ein Drogenscreening vorgenommen – nach Möglichkeit und entsprechendem Einverständnis nicht nur beim Neugeborenen, sondern auch bei der Mutter. Dabei werden Stuhl-, Urin- und gegebenenfalls auch Blutproben zur genauen Bestimmung der bis kurz vor der Geburt eingenommenen Suchtsubstanzen und einer eventuell vorliegenden HIV- und/oder Hepatitis-Infektion entnommen. Unter Umständen erfolgt eine vorsorgliche Impfung gegen Hepatitis B.
Im Anschluss an die Diagnostik beginnt die Überwachung (Monitoring) auf mögliche Entzugssymptome hin. Als Kontroll- und Bewertungsmaßstab wird hierzu in den meisten Fällen der sogenannte Finnegan-Score herangezogen und angewendet. Er umfasst im Großen und Ganzen die bereits im vorangehenden Abschnitt genannten Symptome und gewichtet diese nach der Schwere ihrer Ausprägung und/oder der Häufigkeit und Länge ihres Auftretens. Die Gewichtung erfolgt über eine Punkteskala, aus der sich eine Gesamtpunktzahl, der sogenannte Score, errechnen lässt. Bei einem Gesamtscore von 10 und mehr Punkten wird eine Entzugstherapie begonnen.
Die Behandlung der Entzugssymptome umfasst die Verabreichung einer Opioid-haltigen Lösung (z. B. Morphin-HCl oder Tinctura opii) – selbstverständlich in Kleinstkind-gerechter und entsprechend behutsamer Dosierung. Alternativ oder in Kombination kommen auch bestimmte schlaffördernde und beruhigende Wirkstoffe zum Einsatz. Die Kombinationsbehandlung kommt allerdings nur bei einer besonders schweren Entzugssymptomatik – zum Beispiel infolge eines exzessiven Beikonsums der Mutter während der Schwangerschaft – zur Anwendung. Die Wirkung der Medikation und das Nachlassen der Symptome wird wiederum mithilfe des Finnegan-Scores überprüft und die Dosis entsprechend Zug um Zug bis zur vollständigen Entwöhnung verringert. Flankierende Maßnahmen, wie abgedunkeltes Licht, ruhige Umgebung und eine intensive pflegerische Zuwendung zum Beispiel mit häufigem Körperkontakt ergänzen die medikamentöse Behandlung. Die Einbindung der leiblichen Mutter zum Beispiel zum Stillen kann, sofern diese das leisten kann, natürlich ebenfalls hilfreich sein.
Wer ist auf diese Form von Entzug spezialisiert?
Neugeborene von drogenabhängigen Müttern werden in der Regel in Frauen- und Kinderkliniken versorgt. Eine besondere Spezialisierung auf den neonatalen Drogenentzug gibt es – besonders bei kleineren Häusern – oft nicht. Es ist aber aufgrund der Besonderheiten der diesbezüglichen Behandlung sicher sinnvoll, wenn die aufnehmende stationäre Einrichtung zumindest über einschlägige Erfahrungen in diesem Bereich verfügt. Das Lübecker Konzept kann in diesem Zusammenhang zumindest als Richtschnur dienen. Es beruht im Wesentlichen auf drei Säulen: der medizinischen, der krankenpflegerischen und der sozialpädagogischen Betreuung. Diese schließt neben dem Säugling auch die drogenabhängige Mutter mit ein und verfolgt als maßgebliche Ziele
- die medizinische Entgiftung des Kindes,
- die Förderung einer stabilen und tragfähigen Verbindung zwischen Mutter und Kind,
- die Einbindung aller beteiligten Institutionen (z. B. Drogenhilfe, Jugendamt, niedergelassener Kinderarzt, Einrichtung/Behandler für Drogensubstitution) zum Aufbau eines Hilfsnetzwerks für die Zeit nach der stationären Entlassung.
Wie lange dauert der Entzug?
Die stationäre Aufenthaltsdauer des Säuglings in der Klinik hängt sehr davon ab, welche Suchtmittel die Mutter während der Schwangerschaft konsumiert hat und welche Medikamente zur Behandlung des neonatalen Drogenentzugssymptoms zum Einsatz kommen. Als Mindestzeitraum für den stationären Verbleib von Kindern opiatabhängiger Mütter nach der Geburt werden 4-7 Tage angesehen. Dieser kann sich aber zum Beispiel bei einer Substitutionsbehandlung der Mutter mit Methadon und zusätzlichem Beikonsum während der Schwangerschaft schnell auf deutlich mehr Tage ausweiten. Auch eine Kombinationsbehandlung des Säuglings unter Einsatz von Opioiden und beruhigenden Wirkstoffen zieht in der Regel eine längere Therapiedauer nach sich. Dies hängt wahrscheinlich aber weniger mit den verabreichten Arzneimitteln an sich zusammen, als vielmehr mit dem Umstand, dass im Fall einer Kombinationsbehandlung der Entzug beim Neugeborenen wohl schwerer verläuft. Dessen ungeachtet gibt es die klare Empfehlung, die Neugeborenen mit NAS erst dann in die Obhut außerhalb der Klinik zu entlassen, wenn die Dosis der Entzugsmedikamente auf Null heruntergefahren werden konnte.
Erfahrungen mit dem Entzug im Säuglingsalter
Die Erfahrungen zeigen, dass die Entzugsbehandlung im Säuglingsalter in der Regel zum Ziel führt, das heißt zur vollständigen Entgiftung und Entwöhnung. Allerdings können Schlafstörungen, Unruhe, Schreiattacken und eine erhöhte Muskelspannung noch für Monate nach erfolgreichem Entzug bestehen bleiben. Es wird vermutet, dass hierin weniger ein Weiterbestehen einzelner Entzugssymptome zu sehen ist als vielmehr eine Reaktion auf eine nicht kindgerechte Behandlung durch die leiblichen Eltern (z. B. Überdosierung bei der versuchten Sedierung der Kinder mit Methadon). Übrigens: Die im Mutterleib aufgetretenen Wachstumsrückstände werden im Normalfall während der ersten drei Lebensjahre wieder aufgeholt.