Cannabisdiskussion: Doppelmoral und an den wahren Problemen vorbei

Cannabisdiskussion: Doppelmoral und an den wahren Problemen vorbei

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In den letzten Monaten häuften sich in Köln Messerattacken. Dies zeigt: In den falschen Händen kann dieses eigentlich nützliche Schneidegerät zur gefährlichen Waffe werden. Wenn ich aber deshalb nun eine Grundsatzdebatte über die Legalität von Messern lostreten wollte, würden das viele sicher als völlig überzogen ansehen.

Genauso überzogen kommt mir mittlerweile die Diskussion über die Legalisierung von Cannabis vor. Kein Zweifel: Auch Cannabis kann in den falschen Händen viel Unheil anrichten, so zum Beispiel bei Minderjährigen oder Menschen mit einer psychotischen Veranlagung. Allerdings wird die öffentliche Wahrnehmung der Drogenproblematik durch diese Debatte inzwischen so dominiert, dass ich mich frage: Wird das dem Stellenwert von Cannabis überhaupt noch gerecht? Und vor allem: Werden dadurch andere Rauschmittel, die viel gefährlicher und/oder verbreiteter sind, nicht viel zu sehr in den Hintergrund gedrängt?

Andere Drogen werden sträflich vernachlässigt

Mit dieser Einschätzung stehe ich nicht allein. So erschien im Redaktionsnetzwerk Deutschland zuletzt ein Artikel über die Crack-Welle unter Dortmunder Drogenabhängigen[1]. Dort heißt es, dass die Cannabislegalisierung in den vergangenen zwei Jahren alle Debatten und Kräfte gebunden habe. Die Politik widme daher anderen besorgniserregenden Entwicklungen auf dem Drogenmarkt viel zu wenig Aufmerksamkeit.

Dass diese Aufmerksamkeit dringend nottut, belegen Zahlen des Bundeskriminalamtes (BKA): Seit 2017 verzeichnet man dort eine Zunahme von Todesfällen aufgrund von Rauschmittelkonsum. Verursacher Nr. 1 sind Opiate, Heroin und Opiatsubstitutionsmittel. Besonders alarmierend ist in diesem Zusammenhang: Es finden sich immer häufiger Beimischungen von Fentanyl. Das synthetische Opioid ist um ein Vielfaches stärker als Heroin und „Hauptprotagonist“ der mit zahlreichen Todesfällen verbundenen Opioid-Tragödie in den USA. Selbst das nochmal stärkere und in der Großtiermedizin gebräuchliche Carfentanyl trat bereits als Streckmittel auf. Nicht umsonst hat die Deutsche Aidshilfe daher das Bundesmodellprojekt RaFT (Rapid Fentanyl Tests) ins Leben gerufen.[2].

Laut BKA gewinnen aber auch andere synthetische Drogen, wie zum Beispiel Amphetamine, Cristal Meth (Methamphetamin) und Ecstasy, stetig an Bedeutung. Ebenso befindet sich der bislang ohnehin schon florierende Kokainhandel weiterhin im Aufschwung. Ohne hier irgendetwas verharmlosen zu wollen: Cannabis sucht man in dieser Aufzählung vergeblich.

Die Cannabisdebatte ist unproportional

Wie unproportional die Cannabisdiskussion ausgeartet ist, zeigt auch das brandneue Datenportal datenportal.bundesdrogenbeauftragter.de, für das der Drogenbeauftragte der Bundesregierung Burkhard Blienert verantwortlich zeichnet. Dort findet man das folgende Balkendiagramm:

Mit 4,4 Millionen Abhängigen stellen Raucher*innen die mit Abstand größte Gruppierung dar. An zweiter und dritter Stelle folgen 1,8 Millionen, die von Medikamenten nicht lassen können, sowie 1,6 Millionen, die nicht ohne Alkohol leben können. Rechnet man die 1,3 Millionen Glücksspielsüchtigen auf der 4. Position hinzu, kommt man auf insgesamt über 9 Millionen Erwachsene. Erst auf dem fünften Rang ordnen sich mit einem deutlichen Abwärtssprung die 300.000 Konsumenten ein, die abhängig von Cannabis sind. Für sich allein gesehen ist das sicher auch noch eine stattliche Menge und damit keineswegs zu vernachlässigen. Doch es rechtfertigt eben in keiner Weise den opulenten Raum, den das langatmige Hin und Her um die Legalisierung von Cannabis eingenommen hat.

Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die folgende Aussage von Burkhard Blienert:

„Die Realität ist, dass Menschen trotz Verboten Drogen konsumieren und dass daraus Süchte und Abhängigkeiten entstehen können. Wir müssen diese Wirklichkeit anerkennen, auch für das Umfeld – insbesondere Familie und Freunde – von suchtkranken Menschen.“

Doppelmoral und an den wahren Problemen vorbei

Vor dem hier dargestellten Hintergrund erscheint mir das „Gezerre“ um die Cannabis-Zulassung über weite Strecken als Prinzipienreiterei. Sie ist von Doppelmoral geprägt und geht an den wahren Problemen vorbei. Denn Verbote und Kriminalisierung haben sich im Kampf gegen Drogensucht als stumpfes Schwert erwiesen. Den Konsum von gefährlichen und suchtauslösenden Substanzen konnten sie bislang nämlich keineswegs unterbinden. Die bereits erwähnte Crack-Welle ist hierfür ein aussagekräftiges Beispiel. So veranschaulicht eine aktuelle Doku des Hintergrundmagazins Kontraste, dass die rauchbare Form des Kokains neben Dortmund längst auch andere deutsche Städte erobert.

Gleichzeitig gibt es in der Legalität weit verbreitete Suchtmittel, wie zum Beispiel Tabak und Alkohol, die wie selbstverständlich in der Gesellschaft fest etabliert sind. Dabei sind sie nicht minder gesundheitsschädlich und gefährlich. Allein im Tabakrauch konnten bislang 250 giftige Substanzen identifiziert werden, 90 davon als krebserregend oder zumindest potenziell krebserregend. So ist es zum Beispiel auf dem Kampagnenportal der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung „rauchfrei-info.de“ nachzulesen[3].

Alkohol wird ebenso längst als Zellgift eingestuft, das Körperorgane und Nervenzellen schädigt. Viele wollen das noch immer nicht wahrhaben. Doch die Daten- und Studienbasis hierzu ist ausgesprochen solide: Alkoholkonsum ist verantwortlich für über 200 verschiedene Krankheiten und Störungen. Er stellt somit nach Tabakkonsum und Bluthochdruck das dritthöchste Risiko für Krankheit und Tod dar. So ist es zum Beispiel in einem Factsheet der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen nachzulesen.

Trotz dieser erheblichen Gefährdungspotenziale ist sich der Staat keineswegs zu schade dafür, am Umsatz von Zigaretten, Bier, Wein und Co. kräftig mitzuverdienen. Laut Statista erwirtschaftete allein die Tabaksteuer im Jahr 2023 11,9 Milliarden Euro. Ist man nun ein Schelm, der Böses dabei denkt, wenn legale Suchtmittel unter dem Deckmantel des Genuss- und Kulturgutes als unantastbar gelten? Genau das meine ich, wenn ich im Kontext der Legalisierungsdebatte bei Cannabis von Doppelmoral spreche: Bei der Zulässigkeit von „Gras“ beschwören nicht wenige den Untergang des Abendlandes herauf, während Alkohol und Tabak unverändert eine willkommene Pfründe sind. In meinen Augen mindert das die Glaubwürdigkeit im Kampf gegen Sucht, Abhängigkeit und Drogen ganz erheblich.

Wir brauchen einen anderen Umgang mit Sucht!

Insofern bin ich ganz bei Burkhard Blienert, wenn er fordert: „Wir brauchen eine neue Diskussion über Drogen und einen anderen Umgang mit Sucht.“ Dankenswerterweise bezieht er Alkohol und Nikotin hier ausdrücklich mit ein. Dabei setzt er auf mehr Schutz und Hilfe statt Strafe und favorisiert unter anderem Maßnahmen wie Drug Checking. Ein Beispiel hierfür ist der bereits erwähnte Rapid Fentanyl Test. Ich begrüße diesen Paradigmenwechsel und muss dabei an das Leitmotto des JES-Bundesverbandes[4] denken:

„Drogengebraucher*innen besitzen ebenso wie alle anderen Menschen ein Recht auf Menschenwürde. Sie brauchen es sich nicht erst durch abstinentes und angepasstes Verhalten zu erwerben.“

Dem ein oder anderen Antidrogen-Hardliner mag diese Sichtweise nicht gefallen. Dabei adaptiert sie nichts Geringeres, als Artikel 1 des Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dies lässt keinen Platz für die Art von Stigmatisierung und Diskriminierung, wie sie drogenabhängigen und süchtigen Menschen in großen Teilen unserer Gesellschaft zu Teil wird.

Trotz Neudiskussion: Es passiert zu wenig!

Von daher frage ich mich in aller Ernsthaftigkeit: Warum tut man sich zum Beispiel bei der Einrichtung von Drogenkonsumräumen so schwer? Und warum regt sich in der Nachbarschaft solcher Einrichtungen oft Widerspruch? Was ist an einer Kneipe, Bar oder einem Weinlokal so viel anders? Geht es in solchen Lokalitäten nicht letztlich auch nur darum, sich anhand psychotrop wirkender Substanzen, hier eben den verschiedenen Erscheinungsformen des Alkohols, zu berauschen?

Insofern stehen wir bei der vom Bundesdrogenbeauftragten angestoßenen Neudiskussion sicher noch ganz am Anfang. Und das, was bislang an praktischen Umsetzungen hieraus gefolgt ist, reicht angesichts der hier skizzierten durchaus dramatischen Entwicklung auf dem Drogenmarkt bei weitem nicht aus. Mit dieser Einschätzung stehe ich wiederum nicht allein da. „Jetzt wäre die Zeit zu handeln. Aber bisher passiert viel zu wenig.“ So zitiert das Redaktionsnetzwerk Deutschland in seinem oben genannten Artikel über die Crack-Welle den Suchtforscher Daniel Deimel von der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen.

Vorsorgliche Aufklärung kommt zu kurz

Was mir in diesem Zusammenhang besonders fehlt, ist der Aspekt der Aufklärung. Natürlich wird man damit manifest suchtkranke Menschen nur noch schwer, wenn überhaupt erreichen. Doch darum geht es auch gar nicht so sehr. Gerade die Cannabisdebatte hat gezeigt, wie unversöhnlich sich Argumente für den Konsumenten- und für den Jugendschutz gegenüberstehen können. Hier kann Aufklärung eine sehr wichtige Brückenfunktion ausüben.

Der Sozialwissenschaftler Heino Stöver sieht das offensichtlich genauso. Er ist Leiter des Instituts für Suchtforschung der Frankfurt University of Applied Sciences. In einem auf ZEIT ONLINE am 29. September 2023 veröffentlichten Interview trifft er die folgende Aussage: „Insgesamt bedarf es ernst gemeinter Aufklärung statt Abschreckung ohne konkretes Wissen. […] Nicht: Das darfst du nicht. Ohne zu erklären, warum eigentlich, ist das gefährlich.“ In demselben Interview trifft er gerade im Hinblick auf den von mir angesprochenen Jugendschutz eine weitere sehr wesentliche Präzisierung: „Aufklärung, die etwas bringen soll, muss schon sehr viel früher ansetzen. Im Idealfall verhindert sie, dass es überhaupt zu dauerhaftem Konsum kommt.“

Zu meiner Zeit war LSD eine angesagte Droge. Nicht wenige Rockstars dieser Zeit standen im Ruf, damit zu experimentieren. Entsprechend groß war der Anreiz, es unseren damaligen Idolen gleich zu tun. Bis heute ist mir im Gedächtnis haften geblieben, wie eingehend im Mittelstufen-Unterricht meiner Schule über die unberechenbaren Nebenwirkungen dieses Halluzinogens gesprochen wurde. Genau hier gehört eine derartige Aufklärung auch hin. Und bei mir hat sie Früchte getragen. Alkohol und Nikotin waren indes leider kein Thema.

Zweierlei Maß beim Jugendschutz

Bevor nun wieder gleich der Spaßbremsenvorwurf laut wird, bitte ich folgendes zu bedenken: Menschen, die in einer Suchtklinik Hilfe suchen, sind aufgrund der Folgen ihrer Rauschmittel-Abhängigkeit oft genug verzweifelt und wissen nicht mehr weiter. Spaß ist in diesem Kontext ein Fremdwort. Denn dieser ist den Patienten*innen einer solchen Einrichtung vergangen – und zwar gründlich.

Doch zurück zum Thema Aufklärung: Wussten Sie zum Beispiel, dass Alkohol das jugendliche Gehirn während der Reifung stärker schädigt als Cannabis? Auch das kann man aus dem Interview mit Heiko Stöver erfahren. Weiter heißt es dort:

„Aber das findet sich weder in der gesellschaftlichen Debatte noch in der Gesetzgebung wieder. Im Gegenteil: Wenn ein Jugendlicher mit seinen Eltern oder Erziehungsberechtigten ins Restaurant geht, darf er ab 14 Bier bestellen, ohne Limit. Ab 16 darf er dann alleine Bier und Wein im Supermarkt kaufen. Bei Alkohol schützen wir die Jugendlichen nicht, wir bringen ihnen gesellschaftlich und kulturell akzeptierte Trinkmuster bei, die wir zwar für harmlos halten, die es aber am Ende nicht sind.“

Meine Forderung: Ehrlichkeit und Gleichbehandlung

Verstehen Sie nun, warum ich der Cannabisdiskussion Doppelmoral und ein Vorbeidriften an den eigentlichen Problemen unterstelle? Ich finde, gerade junge Menschen brauchen beim Thema Sucht und Rauschmittel eine ausgewogene Ehrlichkeit. Dazu gehört, dass man die Gefährdungspotenziale potenziell suchtauslösender Substanzen unterschiedslos beim Namen nennt und erläutert. Was gesellschaftlich en vogue ist und was nicht, darf dabei keine Rolle spielen. Denn Gefährdung ist Gefährdung.

Suchtkranke Konsumenten*innen wiederum haben einen Anspruch auf würdevolle Gleichbehandlung. Dazu gehört, dass man dem obdachlosen Cracksüchtigen ebenso Schutz und Hilfe zugesteht, wie der sogenannten bürgerlichen Existenz, die regelmäßig beschwipst nach Hause torkelt. Denn Sucht ist, wie Heiko Stöver zurecht klarstellt, in erster Linie ein gesundheitliches Problem. So etwas mit Verboten und Kriminalisierung „behandeln“ zu wollen, ist in meinen Augen weder angemessen noch zielführend im Hinblick auf ein suchtbefreites Leben.

 

Fußnoten:

[1] Thorsten Fuchs, 14.02.2024: „Die Crack-Welle: Wie die Droge Lukas‘ Leben bestimmt“, Redaktionsnetzwerk Deutschland, https://www.rnd.de/panorama/die-crack-welle-wie-die-droge-lukas-leben-bestimmt-X7I223B64ZAUHBPBYIDTJ2NWYM.html.

[2] https://www.aidshilfe.de/meldung/opioide-fentanyl-co-deutschland-angekommen

[3] (https://rauchfrei-info.de/informieren/tabak-tabakprodukte/inhaltsstoffe-im-tabakrauch/

[4] JES (Junkies, Ehemalige und Substituierte) ist ein bundesweites Netzwerk von Gruppen, Vereinen, Initiativen und Einzelpersonen, die sich unter dem gemeinsamen Dach des JES-Bundesverbandes für die Interessen und Bedürfnisse Drogen gebrauchender Menschen engagieren.

Über den Autor
Autor Frank Frank
Im Sommer 2018 bin ich von Lifespring mit der Redaktion dieses Blogs betraut worden und der Autor dieses Beitrags. Mein Name ist Frank. Seit vielen Jahren arbeite ich als freier Redakteur, Texter und Lektor. Auch ich habe eine „Suchtkarriere“ durchlebt. Bei mir war es der Alkohol. Seit 7 Jahren bin ich abstinent. Ich will hier nicht den häufig bemühten Himmel-Hölle-Vergleich bemühen. Denn beim Durchleiden meiner Sucht war nicht alles Hölle. Und jetzt, im Zustand der „Enthaltsamkeit“, ist nicht nur der Himmel auf Erden. Trotzdem war der Ausstieg aus einem alkoholschwangeren Leben die beste Entscheidung, die ich in jüngerer Zeit getroffen habe. Ich habe meine Freiheit und einen überwiegend klaren Kopf zurückgewonnen – auch wenn das Weltgeschehen mit nüchternem und enteuphorisiertem Blick nicht immer leicht zu ertragen ist. In diesem Blog möchte ich unter anderem über aktuelle Themen aus der Suchtforschung, aus dem Klinikalltag von Lifespring sowie aus den behandelten Suchtindikationen berichten. Ganz besonders möchte ich aber eins: Sie, als Betroffene oder Betroffenen, und Ihre unter Umständen ebenfalls betroffenen Angehörigen, genau da „abholen“, wo Sie der Schuh beziehungsweise die Sucht drückt.
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