Zwei lehrreiche Beispiele für Alkoholbeichten

Zwei lehrreiche Beispiele für Alkoholbeichten

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Belohnung und Depressionen als Trinkmotive sowie Kontrollverluste als Folge des hieraus resultierenden Überkonsums.

Trinken, bis die Stimmung kippt

Endlich Mittwoch. Die ersten drei Arbeitstage mal wieder geschafft. Herausfordernd und stressig war’s – wie immer. Umso größer die Freude auf das abendliche Treffen mit Freunden zum wöchentlichen Bergfest beim Italiener um die Ecke. Schnell ist die erste Karaffe Pinot Grigio geleert. Noch ein Liter? Na klar, man lebt nur einmal! Begeistert stimmt das Belohnungszentrum im Kopf zu: Das hast du dir nach so viel harter Arbeit redlich verdient. Die Gespräche werden lebhafter, und bei dem einen nachbestellten Liter bleibt es nicht. So nimmt die Beschwingtheit immer weiter zu, bis die Stimmung schließlich kippt. Ein Wort gibt das andere und plötzlich hört man sich selbst drohen: Sollen wir das draußen vor der Tür klären?

Am Morgen danach dann Kater und niedergeschlagene Stimmung. Zu allem Überfluss gesellt sich im Zuge des Realisierungsprozesses, was am Abend zuvor passiert ist, grenzenlose Scham dazu: Wie peinlich, mal wieder die Kontrolle verloren – vor meinen Freunden. Und vor den Gästen und Inhabern meines Stammlokals, die mich alle kennen. Dann der Schwur: Das passiert mir nie wieder – bis es dann doch wieder passiert. Beim nächsten Mal eben, wenn das Belohnungszentrum mal wieder Sturm läuft und ein Liter Pinot Grigio nach dem anderen fließt.

So ist es mir selbst einmal passiert.

Etwa zehn Jahre dürfte es her sein. Und derjenige, gegen den sich mein „Ausraster“ wendete, war mein damaliger Vermieter. Worum es ging, habe ich längst vergessen. Aber an das Geschehen an sich erinnere ich mich bis heute voller Unbehagen. Befreundet sind wir trotzdem noch. Denn selbstverständlich hatte ich mich damals nach dem Nüchtern-werden in aller Form entschuldigt.

Es war eines der Erlebnisse, die mir nachhaltig klar machten: Es muss sich etwas ändern und du musst vom Alkohol loskommen. Am 24.10.2014 war es dann endlich so weit: Nach einem letzten ausufernden Absturz machte es klick in meinem Kopf, sodass ich mich seit diesem Herbst über meine nunmehr neun Jahre anhaltende Abstinenz freuen kann. Auch wenn sich unter diese Freude etwas Stolz mischt, überwiegt doch der Respekt vor der Gefahr des Rückfalls. Dass das mehr als angebracht ist, zeigt sich am Beispiel von Jenny Elvers, die aktuell mit einem alkoholbedingten Zwischenfall für Schlagzeilen sorgt. Vor einigen Tagen hat die Polizei sie mit 1,7 Promille in ihrem Auto erwischt. Ein Rückfall nach mehr als elfjähriger Abstinenz, wie sie der Bild-Zeitung später zerknirscht und reumütig zu Protokoll gibt.

Alkoholbedingte Kontrollverluste auch bei Til Schweiger

Das ist aber nicht der eigentliche Anlass für meinen heutigen Blogbeitrag. Hierzu hat mich vielmehr die kürzliche Alkoholbeichte eines anderen deutschen Promis inspiriert. Die Rede ist von Til Schweiger. Das, was er im Rahmen dessen von sich gegeben hat, fand ich berührend und bemerkenswert.

Auch bei ihm gab es alkoholbedingte Kontrollverluste und dadurch geprägte Schlüsselmomente. Dazu zählte zum Beispiel, als er dem Herstellungsleiter seines Films „Manta Manta – zwoter Teil“ eine Ohrfeige verabreichte. Der Grund: Nach einer mit Freunden durchzechten Nacht hatte Schweiger am Tag danach noch immer so viel Restalkohol im Blut, dass der Mitarbeiter ihm den Zutritt zum Set verwehrte. „Es war eine Katastrophe, für die ich mich heute noch schäme, und für die ich allein verantwortlich bin.“, berichtet Schweiger in einem Stern-Interview Ende Oktober.

Erst Scham, dann die Erkenntnis: „Ich brauche Hilfe!“

Der Schauspieler und Regisseur, der in seinen Filmen nicht gerade für differenziert angelegte Charakterrollen bekannt ist, zeigt sich in seiner Lebensrückschau nun von einer sehr selbstreflektierten Seite: Er habe immer gern getrunken. Schleichend sei es dann mehr und schließlich zu viel geworden. Das sei auch seinem Umfeld nicht verborgen geblieben und zunehmend ein Thema gewesen. Zwar habe er seine Kinder, Freunde und Eltern dann immer beschwichtigt und versprochen, es anzugehen. Doch tatsächlich habe er das Problem vor sich hergeschoben und sich stattdessen immer wieder Menschen gegenüber im alkoholisierten Zustand beschissen benommen, zitiert ihn der Stern.

Obwohl er sich danach jedes Mal am liebsten in ein Loch verkrochen hätte und Besserung geschworen habe, sei es doch wieder passiert. Schließlich habe er einsehen müssen, dass er seinen Alkoholkonsum nicht mehr im Griff habe und sich daher vor sechs Monaten in eine Therapie begeben. Alkoholiker sei er aber nicht. Alkohol sei für ihn zwar jahrelang eine Art Belohnung gewesen – aber nichts, was er zwingend zum Leben brauche. Außerdem habe er keinerlei Entzugssymptome. Nun arbeite er gemeinsam mit seinem Therapeuten daran, nicht mehr die Kontrolle zu verlieren. Seine neue Regel laute daher: Nach zwei Gläsern Wein ist Schluss.

Kontrolliertes Trinken versus Abstinenz

Ich habe Respekt vor dieser Art der selbstkritischen Aufarbeitung und wünsche Til Schweiger bei seiner Therapie und der Einhaltung seiner neuen Regel wirklich Erfolg. Doch macht sich genau an dieser Stelle bei mir Skepsis breit. Zum Beispiel war es bei mir ganz ähnlich. Auch ich habe nie von mir gewiesen, zu viel zu trinken. Ebenso habe ich versucht, Trinkregeln zu etablieren. Das erste Glas nicht vor 20.00, nach einer halben Flasche ist spätestens Schluss und in der Woche mindestens ein bis zwei alkoholfreie Tage. Ebenso habe ich in Absprache mit meinem Hausarzt während einer zweiwöchigen Trinkpause getestet, ob sich bei mir Entzugserscheinungen einstellen würden. Das war nicht der Fall. Doch mit dem kontrollierten Trinken funktionierte es ganz und gar nicht. Im Gegenteil, rückblickend betrachtet habe ich heute den Eindruck, dass es umso schlimmer wurde, je mehr ich es versuchte.

Das muss bei jemand anderem natürlich keineswegs genauso sein. Doch aufgrund der aktuellen Datenlage scheinen Zweifel an einer solchen Herangehensweise an Alkoholkonsumstörungen angebracht. So wurde Ende letzten Jahres eine Meta-Analyse der Uniklinik Köln veröffentlicht. In ihr haben Professor Dr. Christopher Baethge und sein Team erstmals die Wirksamkeit von nicht-abstinenzorientierten Therapiekonzepten mit abstinenz-orientierten Behandlungsverfahren verglichen. Wichtigstes Ergebnis: Beide Ansätze wiesen ähnliche Erfolgsquoten auf. Mit anderen Worten: Kontrolliertes Trinken mag sich für einige von Alkoholproblemen Betroffene als Alternative anbieten. Doch – unter dem Strich betrachtet – bringt dieser Weg gegenüber der klassischen Strategie des konsequenten Konsumverzichts keinen Benefit.

Paradigmawechsel bei der WHO: Alkohol nie unbedenklich

Wägt man Pro und Contra beider Konzepte ab, kommt aber noch etwas anderes mit ins Spiel. Unter „kontrolliertem Trinken“ wird nicht ein reines „Weniger“ verstanden, sondern ein Alkoholkonsum innerhalb empfohlener Mengen, die mit einem niedrigen Risiko für Schäden behaftet sind. Genau das ist aber heute als ein kritischer Punkt anzusehen. Denn die WHO hat hier mittlerweile einen Paradigmawechsel vollzogen: „Beim Alkoholkonsum gibt es keine gesundheitlich unbedenkliche Menge.“ (Quelle: https://www.who.int/europe/de/news/item/28-12-2022-no-level-of-alcohol-consumption-is-safe-for-our-health).

Wie sich denken lässt, handelt es sich hierbei nicht um eine spontane Eingebung. Vielmehr gründet diese Aussage auf den Ergebnissen jahrelanger wissenschaftlicher Auswertungen. So zählt Alkohol zu den Zellgiften, die unter anderem potenziell krebsauslösend sind. Das ist schon lange bekannt. Das internationale Krebsforschungszentrum hat Äthanol, so der Fachbegriff für Alkohol, daher bereits vor Jahrzehnten in die höchste Risikogruppe eingeordnet. Damit spielt dieses Genussmittel in derselben gesundheitsgefährdenden Liga wie zum Beispiel Asbest, Tabak oder Strahlung. Mindestens sieben Krebsarten konnte man identifizieren, bei deren Entstehung Alkohol als Risikofaktor eine Rolle spielt, darunter so häufige Formen wie Brust- oder Darmkrebs.

Neu ist allerdings, dass 50 Prozent der Alkohol-bedingten Krebsfälle in Europa bereits auf einen moderaten Konsum zurückzuführen sind. Moderat bedeutet: weniger als 1,5 Liter Wein, 3,5 Liter Bier oder 450 Milliliter Spirituosen pro Woche. Die mit dem Konsum von Alkohol einhergehenden Gesundheitsrisiken bestehen also bereits ab dem ersten Tropfen. Dies steht in deutlichem Widerspruch zum noch immer weit verbreiteten Credo, dass Alkohol in Maßen genossen für den menschlichen Körper unbedenklich oder gar empfehlenswert sei. Unverändert gilt allerdings, dass auch hier die Menge das Gift macht. Denn mit steigendem Alkoholkonsum erhöht sich ebenso das Krebs- beziehungsweise Gesundheitsrisiko – und zwar erheblich. Auch das belegen aktuelle Daten der WHO.

Der Königsweg heißt Abstinenz

Insofern halte ich die Abstinenz für den Königsweg bei alkoholbezogenen Störungen. Außerdem kann ich mir einfach nicht vorstellen, dass sich der Alkoholkonsum bei Menschen mit einer jahrelangen Toleranzentwicklung gegenüber der Substanz durch kontrolliertes Trinken zügeln lässt. Diese Toleranzentwicklung gab es auch bei Til Schweiger. Er spricht selbst davon, dass es schleichend immer mehr geworden sei. Dieses „Mehr-werden“ ist die Folge neuroadaptiver Anpassungsprozesse im Gehirn aufgrund des jahrelangen „Überkonsums“. Reversibel sind diese Prozesse aber nur bei striktem Konsumverzicht. Wird Alkohol weiterhin zugeführt, werden sie jedes Mal von neuem genährt – Stichwort „Suchtgedächtnis“.

Von daher sollte man wirklich nur dann auf eine therapeutisch begleitete Trinkmengenreduktion ausweichen, wenn einem der Verzicht – zumindest im ersten Anlauf – als unüberwindbare Hürde erscheint. Übrigens schwenken laut Baethge rund ein Drittel derjenigen, die es zunächst mit einem nicht-abstinenzorientierten Therapiekonzept versuchen, später doch noch auf einen abstinenz-geleiteten Behandlungsansatz um. Auch das spricht aus meiner Sicht letztlich für die Abstinenz als am besten zielführende Herangehensweise an alkoholbezogene Störungen.

Alkohol und Gewalt

Alkohol-assoziierte Kontrollverluste zeigen sich aber nicht nur in dem Unvermögen, der Trinkhäufigkeit und den Konsummengen Grenzen zu setzen. Leider können sie ebenso in zunehmende Aggressivität und mangelnde Impulskontrolle münden, in deren Folge es dann auch zu Tätlichkeiten kommen kann. Meine eingangs erzählte diesbezügliche Selbst-Erfahrung mit meinem Vermieter sowie die von Til Schweiger geschilderte Eskalation am Set von Manta Manta liefern hierzu anschauliche Beispiele. Dass solche „Ausraster“ unter Alkoholeinfluss keine Einzelfälle beziehungsweise Ausnahmeerscheinungen sind, zeigt das sogenannte „Bundeslagebild zur Häuslichen Gewalt“. Im letzten Jahr wurden bei „Partnerschaftsgewalt“, „innerfamiliäre Gewalt“ sowie „Straftaten nach §4 Gewaltschutzgesetz“ insgesamt 203.956 Tatverdächtige (m/w) verzeichnet. Davon standen 39.477 Personen unter Alkoholeinfluss, was einer Quote von knapp 20 % entspricht.

Der aktuelle Bericht des schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit (BAG) zum Thema Alkohol und Gewalt untermauert, dass missbräuchliches Trinkverhalten ein wichtiger Risikofaktor für das Auftreten von Gewalt ist. Danach ist zum Beispiel in unserem eigentlich so beschaulichen Nachbarland Schweiz bei rund der Hälfte aller untersuchten Gewaltdelikte im öffentlichen Raum Alkohol im Spiel. Außerdem geht laut einer dort genannten Studie („Gewalt in der Partnerschaft und Alkohol“) bei rund einem Viertel der Paare Gewalt immer mit Alkoholkonsum einher.

Alkohol und Depression

Wenn der Genuss von Alkohol mit einer solchen Fülle an negativen Begleiterscheinungen verbunden sein kann, stellt sich natürlich die Frage: Warum ist man dann so unvernünftig und setzt sich den hier aufgeführten Risiken überhaupt aus? Kommen wir noch einmal auf Jenny Elvers zurück. Ihre Geschichte liefert hierfür ein ausgesprochen exemplarisches Motiv. Im Rahmen dessen, was sie der Bild-Zeitung über ihren neuerlichen Absturz berichtet, sagt sie: „Ich leide seit über zehn Jahren an Depressionen, darum habe ich damals ja auch angefangen zu trinken und mich mit Alkohol zu betäuben. Ich bin eigentlich medikamentös gut eingestellt. Dennoch gibt es immer wieder Phasen, in denen ich traurig bin und merke: Ich muss aufpassen.“

Depressionen werden in der Tat als Auslöser und Risikofaktor für Alkoholmissbrauch angesehen. Der Grund: „In kleineren Mengen wirkt Alkohol stimmungsaufhellend, beruhigend, entspannend und angstlösend.“ So ist es zum Beispiel auf dem Infoportal neurologen-und-psychiater-im-netz.org nachzulesen. Umso näher liegt der Schluss, dem die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung betriebene Jugendseite kenn-dein-limit.de Ausdruck verleiht:

„Depressionen erzeugen Lustlosigkeit, Reizbarkeit, negative Gefühle. Das Leben erscheint langweilig und sinnlos. Alkohol dagegen hebt die Stimmung, schafft künstlich Euphorie und Wohlgefühl. Alkohol macht gesprächig und selbstsicher, baut Ängste ab und enthemmt – also genau das, was eine Depression kurzfristig lindert. Alkohol ist daher die vermeintlich passende „Medizin“.

Unter Fachleuten spricht man in diesem Zusammenhang von der sogenannten „Selbstmedikationshypothese“. Ich habe selbst schon hierüber geschrieben (lifespring.de/sucht-handbuch/weg-aus-der-depression).

Trinkt man, weil man depressiv ist? – Oder umgekehrt?

Doch wie so häufig, mache ich erneut die Erfahrung: Es gibt Behauptungen, die mit einer gewissen Selbstverständlichkeit – auch in Fachkreisen – weit verbreitet sind. Sucht man aber nach belastbaren Belegen, tut man sich schwer. Zwar gibt es Zahlen zum gemeinsamen Auftreten von Depressionen und Alkoholabhängigkeit. So sollen von den 1,7 Millionen in Deutschland lebenden Alkoholabhängigen rund 30 Prozent zusätzlich an Depressionen leiden, wobei Frauen mit 49 Prozent etwa doppelt so häufig betroffen sind wie Männer mit 24 Prozent (Quelle: kenn-dein-limit.de/alkoholkonsum/folgen-von-alkohol/alkohol-und-depressionen).

Auch die deutsche Leitlinie zu Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störung verweist darauf, dass das gemeinsame Auftreten von Alkoholproblemen und Depressionen überzufällig hoch sei. Außerdem lägen zahlreiche Untersuchungen vor, die sich mit der Bedeutung dieses Zusammenhangs beschäftigten. Ansonsten findet man dort aber lediglich die Aussage, dass Alkoholkonsumstörungen und Depressionen einander negativ beeinflussten. Auf die Frage allerdings, die sich zwangsläufig aufdrängt, nämlich: „Trinkt man, weil man depressiv ist, oder wird man depressiv, weil man trinkt?“, sucht man dort vergeblich eine Antwort.

Was ist dran an der sog. Selbstmedikationshypothese?

Genau hierin versucht sich eine im Jahr 2019 im Journal of Adolescent Health veröffentliche Studie mit fast 1.300 Jugendlichen. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Depression die Ursache und der daraufhin verstärkte Alkoholkonsum die Folge ist. Des Weiteren habe ich eine im Oktober 2021 bei der Psychologischen Fakultät der Uni Klagenfurt eingereichte Masterarbeit zur Thematik gefunden (Karina Peuser: Depressionen mit Substanzkonsumstörungen: Erfahrungen zu der Selbstmedikationshypothese). Die von ihr im Rahmen einer qualitativen Untersuchung befragten Experten waren sich in der Zustimmung zur Selbstmedikationshypothese allerdings nicht uneingeschränkt einig. Auch eine von der Autorin herangezogene Übersichts-Analyse aus dem Jahr 2020 (Hawn et al.: A Systematic Review of the Self-Medication Hypothesis in the Context of Posttraumatic Stress Disorder and Comorbid Problematic Alcohol Use) ergibt hier eher ein uneinheitliches Bild.

Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass Depression und Alkoholmissbrauch so eng miteinander verwoben sind, dass sich oft nicht klären lässt, was hier Henne oder Ei ist. Wiederum kann ich eine Selbsterfahrung beisteuern: Seit ca. 20 Jahren nehme ich mit wenigen Unterbrechungen regelmäßig Antidepressiva. Zu der Zeit, als ich noch Alkohol trank, war ich mit dem Ergebnis dieser Art der Behandlung häufig unzufrieden. Also suchte ich im Jahr 2013 einen Psychiater auf, um mich medikamentös neu einstellen zu lassen. Dabei kamen meine damaligen Trinkgewohnheiten zur Sprache. Daraufhin gab mir der Psychiater, ich werde es nie vergessen, ganz klar mit auf den Weg: „Herr Wende, solange Sie in dieser Weise Alkohol konsumieren, wird das nichts mit Ihrer Depressionsbehandlung.“

Heute kann ich bestätigen: Er hatte zu 100 Prozent recht. Denn seit ich aufgehört habe zu trinken, nehme ich zwar noch immer regelmäßig ein Antidepressivum. Dessen Wirksamkeit hat sich aber durch meine Abstinenz spürbar verbessert, sodass ich in dieser Hinsicht nun ziemlich stabil bin.

Trinken als Belohnung

Gründe, zu trinken, gibt es natürlich weitaus mehr als den hier genannten der Depression. Oder besser gesagt: Man legt sich diese Gründe zurecht. Denn streng genommen gibt es keine – zumindest keine zwingenden, sieht man einmal von suchtkranken Menschen ab. Das gibt auch Til Schweiger in seiner Rückschau zu. Denn wie bereits weiter oben geschildert, hat er den Griff zum Glas nicht als zwingend lebensnotwendig, sondern als Belohnung angesehen.

Genauso nehme ich es in meiner Umgebung auch wahr: Menschen, die während ihrer Arbeit von überdurchschnittlicher Leistungsbereitschaft angetrieben werden. Menschen, die sich dann am Feierabend mit einem Glas Wein oder Bier ein wohlverdientes Genusserlebnis gönnen. Menschen, die darüber hinaus die schnell entspannenden und Wohlbefinden auslösenden Nebeneffekte des Alkohols zu schätzen wissen. Und Menschen, die damit ihre vernachlässigte Work-Life-Balance und Selbstfürsorge kompensieren.

Neuroadaptive Anpassung und Wirkerwartung
als Einfallstore zur Sucht

Eine Zeitlang funktioniert das sicher auch. Doch im Rahmen der Toleranzentwicklung und des schleichenden Mehr-Werdens wird diese Art des Belohnungstrinkens dann zu einem regelrechten Einfallstor der Sucht. Heute weiß man, dass dabei nicht nur neuroadaptive Veränderungsprozesse im Gehirn auf das Trinkverhalten Einfluss nehmen. Experimentalpsychologisch konnte nachgewiesen werden, dass in der Abhängigkeitsentwicklung zudem auch sogenannte Wirkungserwartungen eine zentrale Rolle spielen. In einer aktuellen Publikation[1] der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen werden zum Beispiel die folgenden hier besonders relevanten Erwartungshaltungen unterschieden:

Die Erwartung, dass sich durch das Suchtmittel

  • Sichtweisen angenehmer und positiver darstellen,
  • persönliches und soziales Wohlbefinden steigert,
  • Spannungen reduzieren oder sogar abbauen.

Ich habe zwar keine konkreten Angaben gefunden, wie hoch die Zahl der „Belohnungstrinker“ ist. Doch kann ich mir sehr gut vorstellen, dass ihre Gruppe unter den 16,9 Millionen 18- bis 64-jährigen Deutschen[2], die Alkohol in gesundheitlich riskanter[3] oder sogar problematischer[4] Form konsumieren, besonders groß ist.

Schweigers Geschichte gibt auch ein positives Beispiel

Genau deshalb habe ich die Geschichte von Til Schweiger aufgegriffen. Nicht, um mich an ihm abzuarbeiten und ihn vorzuführen, sondern weil mir sein Fall für das hier umrissene Gruppenbild ausgesprochen exemplarisch scheint. Seine überdurchschnittliche Leistungsbereitschaft beweist der 59jährige durch die beeindruckende Fülle seiner Filmografie als Schauspieler, Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und Synchronsprecher. Da wundert es nicht, dass er sich als jahrelanger Belohnungstrinker mit einem Hang zu Kontrollverlusten outen musste. Denn irgendwo muss der Druck ja hin, der sich in einem so schaffensreichen Leben aufstaut.

Trotz seines hierdurch verursachten „Aneckens“ verfügt er über wichtige Ressourcen, die Ursache seiner Probleme anzugehen: Er ist in einem bürgerlichem Milieu verwurzelt, verfügt über die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion sowie die Bereitschaft, etwas zu verändern. Und vor allem: Er ist für die besorgten Botschaften seines offensichtlich konstruktiven sozialen Umfelds noch erreichbar.

Das ist keineswegs selbstverständlich und vor allem bei schwer alkoholabhängigen Menschen oft ein Problem. Genau deshalb möchte ich meinen heutigen Blogbeitrag dieser Art von Belohnungstrinkern widmen, für die Til Schweiger in gewisser Weise stellvertretend steht. Denn bei ihnen kann man noch gut etwas ausrichten. Und man kann dazu beitragen, dass diejenigen, die für meine hier formulierten Kernaussagen empfänglich sind, es dem bekannten Schauspieler gleichtun: indem sie therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, ihr Problem angehen und die Bereitschaft mitbringen, das Ruder noch rechtzeitig genug herumzureißen und etwas zu ändern.

 

 

[1] DHS (Hrsg.): „Alkoholabhängigkeit“, suchtmedizinische Reihe, Bd. 1, März 2022, S. 46)

[2] Quelle: Rauschert, C. et al. (2022): Konsum psychoaktiver Substanzen in Deutschland – Ergebnisse des Epidemiologischen Suchtsurvey 2021. Deutsches Ärzteblatt International, 119, 527-534. doi: 10.3238/arztebl.m2022.0244.

[3] Riskanter Konsum: durchschnittlicher Konsum von mehr als 12g (Frauen) beziehungsweise 24 g (Männer) Reinalkohol pro Tag

[4] Problematischer Alkoholkonsum in den letzten 12 Monaten nach den Kriterien des Alcohol Use Disorder Identification Test (AUDIT; Babor et al., 1989), erhoben mit der deutschen Fassung von Rist et al. (2003). Ab einem Schwellenwert von 8 Punkten wird von problematischem Alkoholkonsum ausgegangen (Conigrave et al., 1995; Saunders et al., 1993).

Über den Autor
Autor Frank Frank
Im Sommer 2018 bin ich von Lifespring mit der Redaktion dieses Blogs betraut worden und der Autor dieses Beitrags. Mein Name ist Frank. Seit vielen Jahren arbeite ich als freier Redakteur, Texter und Lektor. Auch ich habe eine „Suchtkarriere“ durchlebt. Bei mir war es der Alkohol. Seit 7 Jahren bin ich abstinent. Ich will hier nicht den häufig bemühten Himmel-Hölle-Vergleich bemühen. Denn beim Durchleiden meiner Sucht war nicht alles Hölle. Und jetzt, im Zustand der „Enthaltsamkeit“, ist nicht nur der Himmel auf Erden. Trotzdem war der Ausstieg aus einem alkoholschwangeren Leben die beste Entscheidung, die ich in jüngerer Zeit getroffen habe. Ich habe meine Freiheit und einen überwiegend klaren Kopf zurückgewonnen – auch wenn das Weltgeschehen mit nüchternem und enteuphorisiertem Blick nicht immer leicht zu ertragen ist. In diesem Blog möchte ich unter anderem über aktuelle Themen aus der Suchtforschung, aus dem Klinikalltag von Lifespring sowie aus den behandelten Suchtindikationen berichten. Ganz besonders möchte ich aber eins: Sie, als Betroffene oder Betroffenen, und Ihre unter Umständen ebenfalls betroffenen Angehörigen, genau da „abholen“, wo Sie der Schuh beziehungsweise die Sucht drückt.
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