Eine Lanze für den Kinderpunsch

Eine Lanze für den Kinderpunsch

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Gestern Abend war ich mit einem Freund verabredet. Auf dem Programm stand der Besuch eines Weihnachtsmarkts in der Kölner Innenstadt. Viele werden dabei wohl gleich an die Menschentrauben denken, die sich vor den Getränkebuden bilden. Und an die vielen Menschen in diesen Trauben, die sich an ihrem Glühweinbecher die Hände – und vielleicht auch die Seele – erwärmen. Angesichts dieser durchaus verlockenden Vorstellung stellt sich für einen trockenen Alkoholiker wie mich die Frage: Wie kommt man damit eigentlich klar? Kann man den Besuch eines Weihnachtsmarktes trotzdem genießen? Und Spaß haben? Zumal, wenn der begleitende Freund auch trinkt – nicht suchtmäßig, aber immerhin doch mit zupackender Freude und bisweilen auch mal über die Stränge schlagend. Um es direkt vorweg zu nehmen: Man kann – auch mit Kinderpunsch! Doch der Reihe nach.

Inferno für die Sinne

Es ist 19.00. Pünktlich – wie verabredet – treffen wir am Haupteingang des Weihnachtsmarkts im Kölner Stadtgarten zusammen. Gleich beim Betreten werden wir vom anheimelnden Schein unzähliger Lichter empfangen. Aus vielen Ecken duftet es verführerisch nach Reibe- und Flammkuchen, Raclette, gegrilltem Fleisch, Mexican und Brazilian Food sowie Crepes, frisch zubereiteten Nussschnecken, Apfel-Zimt-Wecken, Gewürzen oder exotischen Tee- und Kaffeesorten. Ein wahres Inferno für die Sinne also. Auch die sonstigen Waren heben sich erfrischend vom Angebot anderer Märkte ab. Nicht alles gefällt mir, aber die Neugier wird geweckt – und ein belustigtes Interesse manchmal auch. So wie zum Beispiel am Stand mit den poppig-bunt gestrickten Bommelmützen in türkise-rot-weiß. Unwillkürlich entfährt meinem Freund die Frage: Ob es die auch in schön gibt? Leider höre das nicht nur ich, sondern auch die öko-angehauchte junge Verkäuferin spitzt ihre Ohren. Ihr gequältes Lächeln ist die Folge. Wir allerdings lachen ganz ungequält, wenn auch aus Höflichkeit mehr innerlich.

Verdutztes Gesicht am Ausschank

Und wo wir schon beim Thema „Belustigung“ sind: Mittlerweile bereitet es mir auch schelmische Freude, am Getränkestand für meinen Freund einen Glühwein und für mich einen Kinderpunsch zu bestellen. Mit 61 Jahren ein Kinderpunsch? Einfach herrlich, dabei in das leicht verdutzte Gesicht der jeweils Ausschenkenden zu blicken. In diesem Zusammenhang muss ich an einen Weihnachtsmarktbesuch vor sechs Jahren mit demselben Freund denken. Damals hatte ich für all diese Sinneseindrücke und Vielfalt überhaupt kein Auge. Stattdessen schnurstracks zur erstbesten Getränkebude und in möglichst schneller Folge auf nüchternen Magen drei Glühwein mit Schuss – Rum natürlich – reingepfiffen. Wegen der besseren Wirkung. Doch bereits nach einer viertel Stunde war das dadurch ausgelöste Hochgefühl auch schon wieder verflogen. Was blieb, war dieses tumbe Gefühl des „In-Watte-gepackt-seins“. Und das nur aufs nächste Nachkippen verengte Bemühen, um den Pegel zu halten. Wenn ich heute daran denke, schüttelt es mich geradezu – keine schöne Erinnerung!

Ein beglückender Moment des intensiven Wahrnehmens

Umso mehr wundere ich mich, wenn ich im Zusammenhang mit Drogen immer wieder über deren Bewusstseins erweiternde Wirkung lese. Aus meiner eigenen einschlägigen Erfahrung heraus kann ich das nämlich nicht bestätigen. Ganz im Gegenteil! Zu meinen Trinkerzeiten habe ich vieles wie im Nebel wahrgenommen. Heute aber sind meine fünf Sinne wieder ganz anders geschärft – so wie zum Beispiel beim anschließenden Besuch eines weiteren Weihnachtsmarktes – und zwar dem auf dem Rudolfplatz. Die Hahnenpooz, die als eins der vier verbliebenen Stadttore der ehemaligen Kölner Stadtbefestigung diesen Platz beherrscht, war wunderschön angestrahlt und illuminiert – ein beglückender, wenn auch kurzer Moment des intensiven Wahrnehmens. So etwas hat es bei mir früher mit Glühwein und Schuss nicht gegeben. Heute nehme ich einen solchen Eindruck mit nach Hause und habe noch einige Tage meine Freude daran. Dies empfinde ich als Geschenk, welches ich mir durch meine Abstinenz selbst mache.

Da geht noch was: mitlachen – auch ohne Alkohol

Doch wie stellt sich die Sache eigentlich im Hinblick auf das Verhältnis zu meinem Freund dar? Können wir noch die gleichen Freuden teilen, wo wir doch uns ab einem gewissen Zeitpunkt auf einen unterschiedlichen Beschwingtheitslevel befinden? In den Anfängen meiner Abstinenz hat mein Freund oft augenzwinkernd beklagt: „Nun habe ich auch ein Alkoholproblem. Mein Freund trinkt nicht mehr.“ Damit meinte er vor allem den Verlust gemeinsam ausgelebter bier- oder weinseliger Ausgelassenheit, wenn andere längst den Abend beschlossen hatten, nach dem Motto: Da geht noch was!

Dennoch können wir uns heute nach wie vor gemeinsam amüsieren. So zum Beispiel, als wir vor dem Stand mit dem Schwenkgrill stehen und uns genussvoll eine Krakauer und ein Nackensteak gönnen. Mein Freund, der Arzt ist, gibt dabei einen Schwank von seiner letzten Fortbildungsveranstaltung in einem Frankfurter Hotel zum Besten: Bei einem feuchtfröhlichen Stelldichein in der Hotelbar mit Kollegen und Pharmareferenten vergingen die Stunden so flugs, dass es zumindest gefühlt im Handumdrehen halb zwei in der Nacht geworden war. Danach fiel mein Freund „angesäuselt“ ins Bett und schlief so tief und fest ein, dass er ein paar Stunden später beim Toilettengang die Tür zum WC verwechselte und sich unversehens ausgesperrt im Hotelflur wiederfand. Und als ob das noch nicht gereicht hätte, kommt nun die Krönung: Er war splitterfasernackt! Er also tapfer und hoch erhobenen Haupt mit dem Aufzug ins Erdgeschoss gefahren, quer durch eine schier endlos erscheinende Hotellobby zur Rezeption geschritten und sich vom Nachtportier eine neue Zimmerkarte erbeten. Zum Abschluss seiner Anekdote meint mein Freund noch zu mir: „Du glaubst gar nicht, wie schnell ich wieder nüchtern war.“

Über so etwas kann ich heute lachen, ohne Alkohol intus zu haben – und zwar ebenso lange wie herzhaft. Ebenso verspüre ich dabei wenig Lust, meinem Freund Vorhaltungen zu machen, nach dem Motto: Siehst Du, das kommt davon, wenn man zu viel trinkt. Ganz im Gegenteil, dass ich über so etwas mitlachen und anderen ihren Spaß und ihre Schrullen, welcher Art auch immer, gönnen kann, ist für mich persönlich zu einem der Schlüssel für die Aufrechterhaltung meines Alkoholverzichts geworden.

Zu guter Letzt: eine Lanze für den Kinderpunsch

Dessen ungeachtet bin ich gestern mal wieder um die Erfahrung reicher geworden, dass man sich durchaus auch an einem Becher Kinderpunsch Hände und Seele erwärmen kann. Hierfür möchte ich heute eine Lanze brechen. Also wenn Ihr mal keine Lust auf Glühwein verspürt oder einfach nur Angst habt, Euch nachts nackt auszusperren, dann ringt der netten Studentin am Ausschank ein verdutztes Gesicht ab und bestellt Kinderpunsch. In diesem Sinn wünsche ich Euch allen eine heitere Vorweihnachtszeit mit möglichst vielfältigen Sinneseindrücken beim Besuch des Weihnachtsmarktes Eurer Wahl.

Über den Autor
Autor Frank Frank
Im Sommer 2018 bin ich von Lifespring mit der Redaktion dieses Blogs betraut worden und der Autor dieses Beitrags. Mein Name ist Frank. Seit vielen Jahren arbeite ich als freier Redakteur, Texter und Lektor. Auch ich habe eine „Suchtkarriere“ durchlebt. Bei mir war es der Alkohol. Seit 7 Jahren bin ich abstinent. Ich will hier nicht den häufig bemühten Himmel-Hölle-Vergleich bemühen. Denn beim Durchleiden meiner Sucht war nicht alles Hölle. Und jetzt, im Zustand der „Enthaltsamkeit“, ist nicht nur der Himmel auf Erden. Trotzdem war der Ausstieg aus einem alkoholschwangeren Leben die beste Entscheidung, die ich in jüngerer Zeit getroffen habe. Ich habe meine Freiheit und einen überwiegend klaren Kopf zurückgewonnen – auch wenn das Weltgeschehen mit nüchternem und enteuphorisiertem Blick nicht immer leicht zu ertragen ist. In diesem Blog möchte ich unter anderem über aktuelle Themen aus der Suchtforschung, aus dem Klinikalltag von Lifespring sowie aus den behandelten Suchtindikationen berichten. Ganz besonders möchte ich aber eins: Sie, als Betroffene oder Betroffenen, und Ihre unter Umständen ebenfalls betroffenen Angehörigen, genau da „abholen“, wo Sie der Schuh beziehungsweise die Sucht drückt.
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