Sucht als Endzustand der Misshandlung am Beispiel des Xylazin-Konsums

Sucht als Endzustand der Misshandlung am Beispiel des Xylazin-Konsums

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Sicher kennen Sie die Redewendung: Das haut das stärkste Pferd um. Man nimmt sie in den Mund, um bildhaft die besondere Intensität einer Wirkung zum Ausdruck zu bringen. Wie ausgeprägt muss der Suchtdruck eines Menschen sein, wenn er zum Boostern seines Rauschs ein Arzneimittel nimmt, welches in der Veterinärmedizin in der Tat dazu gedacht ist, „ein Pferd umzuhauen“? Wie verzweifelt muss er sein, wenn er dafür stundenlange Total-Blackouts, ebenso nässende wie schmerzhafte Wunden an den Einstichstellen und sogar bis auf die Knochen faulende Gewebeschädigungen in Kauf nimmt, die zur Amputation führen? Und wie tief muss er in den Sumpf der Abhängigkeit geraten sein, wenn er dieses Mittel konsumiert, obwohl es nach ersten Studienergebnissen noch süchtiger macht als Heroin oder Fentanyl?

Xylazin – Narkosemittel (nur!) für tierärztliche Eingriffe

Der Wirkstoff, von dem hier die Rede ist, heißt Xylazin. Das Medikament ist keineswegs neu. Der Spiegel berichtet, dass es bereits 1962 als Narkosemittel für tierärztliche Eingriffe entwickelt wurde. Im Wikipedia-Artikel zu dieser Arznei ist nachzulesen, dass es darüber hinaus auch als Schmerz-, Beruhigungs- sowie muskuläres Entspannungsmittel für Vierbeiner sehr weit verbreitet ist. Die Bildzeitung wiederum zitiert einen auf Beruhigungsmittel spezialisierten Apotheker, dass das Medikament für Menschen nicht zugelassen sei. Und die Kölnische Rundschau verweist darauf, dass dies an zu starken Nebenwirkungen gescheitert sei.

Billiger Opioid-Booster mit tödlichen Folgen

Dennoch kommt Xylazin bereits 2005 in der Drogenszene von Puerto Rico auf. So ist es einem Artikel der New York Times zu entnehmen. Denn einmal abgesehen von seinen für den Menschen überaus gefährlichen Nebeneffekten wirkt es auch bei uns betäubend, schmerzstillend sowie außerdem stimmungsaufhellend. Des Weiteren ist es als Injektionslösung (Xylazinhydrochlorid) geruch- und nahezu geschmacklos. Insofern eignet es sich tragischerweise hervorragend zur Mischung beispielweise mit Heroin, dessen Rausch es verstärken und verlängern soll.

Vor allem aber ist Xylazin billig. So beträgt sein Straßenpreis nach übereinstimmenden Meldungen in etwa nur die Hälfte dessen, was zum Beispiel handelsübliches Heroin kostet. Dies ist einer der Gründe, warum sich der Missbrauch des Mittels zum Beispiel unter der Bezeichnung „Tranq“ oder „Tranq Dope“ auch auf dem US-amerikanischen Markt rasant ausbreitet. Experten begründen diesen Vormarsch außerdem mit der deutlich abnehmenden Verfügbarkeit der bis dato dominierenden Heroinalternative Fentanyl. Denn China, der weltgrößte Exporteur und Produzent der heroin-ähnlichen Substanz, hat das Opioid seit 2019 bei sich im Land geächtet und verboten.

Mittlerweile haben sich an der US-Ostküste mit New York, Philadelphia und Maryland regelrechte Tranq-Hotspots etabliert. Aber auch der weiter im Inneren der USA liegende Bundestaat Michigan mit Städten wie Ann Arbor oder Detroit meldet besorgniserregende Zahlen. Laut den Nachrichtendiensten von Apotheke Adhoc oder Tag24 sollen sich allein dort zwischen 2020 und 2021 die Todesfälle infolge einer Überdosierung mit Xylazin verdoppelt haben. Die Zahlen für 2022 liegen zwar noch nicht vor, lassen aber den Vorhersagen zufolge noch Schlimmeres befürchten.

Xylazin verschärft die Overdose-Krise in den USA

Für die US-amerikanische Bevölkerung ist das eine verheerende Entwicklung. Denn sie ist durch die exorbitant hohen Todesfallraten im Zuge der seit Jahren grassierenden Opioidkrise ohnehin schon arg gebeutelt. Die von der US-Behörde „Centers for Disease Control and Prevention“ (zu Deutsch: Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention) hierzu veröffentlichten Daten sind erschütternd: Von 1999 bis März 2021 sind fast 841.000 Menschen an einer Drogenüberdosis verstorben. Zwischen April 2020 und April 2021 wurden erstmals mehr als 100.000 Drogentote in einem Jahr verzeichnet; zwischen Juli 2021 und Juni 2022 waren es schon mehr als 107.000 Menschen. Rund drei von vier dieser Toten verstarben an einer Überdosis Opioide; die meisten tödlichen Überdosen waren dabei auf das Opioid Fentanyl zurückzuführen.

Natürlich gibt es mittlerweile Initiativen, die sich mit Vehemenz sowie Rat und Tat für das Ziel „stop overdose“ einsetzen. Ein Beispiel hierfür ist das Portal https://stopoverdose.org/. Es wird vom Center for Community-Engaged Drug Education, Epidemiology, and Research betrieben und gehört zum Addictions, Drug & Alcohol Institute der Universität Washington. Doch ob solche Projekte die Sterblichkeit im Zusammenhang mit Overdose senken können, ist zweifelhaft. Denn unter dem Einfluss von Xylazin dürfte sich die Problematik eher noch verschärfen. Dies hat einen einfachen Grund: Hat sich bei der Überdosierung von Opioiden mit Naloxon immerhin ein ebenso schnell wie hoch wirksames Gegenmittel bewährt, ist dies bei Xylazin bisher nicht der Fall.

(Noch) gibt es kein Gegenmittel und medizinisches Protokoll

Xylazin ist nämlich kein Opioid, sondern ein α2Adrenozeptor-Agonist. Im Zentralnervensystem führt eine Aktivierung von α2-Adrenozeptoren zu den bereits beschriebenen überwiegend hemmenden Effekten (z. B. Sedierung, Schmerzlinderung). Folglich kann Naxolon hier nicht als Antagonist helfen, da es ebenfalls die Opioidrezeptoren belegt und eben nicht die Adrenozeptoren.

Mit Tolazolin und Yohimbin stehen zwar durchaus Adrenozeptor-Antagonisten zur Verfügung, die die Wirkung von Xylazin aufheben und eigentlich auch zur Behandlung von Menschen zugelassen sind; dennoch wird es als Stand der Dinge beschrieben, dass es – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – noch kein an Menschen erprobtes Gegenmittel für Xylazin gibt. Dies hängt auch damit zusammen, dass bis jetzt keine humanmedizinischen Richtlinien zum Umgang mit „Tranq“ verfügbar sind. Verwunderlich ist das nicht; denn ursprünglich war es für diesen Einsatzbereich nicht vorgesehen. Doch nun werden landesweite Warnungs- und Aufklärungskampagnen, wie zum Beispiel von der „Food an Drug Administration“ im letzten November, nicht mehr ausreichen. Denn während über die Wirkung von Opioiden auf den menschlichen Organismus umfangreiche Forschungsarbeiten vorliegen, gibt es über Xylazin fast noch keine. Es gibt also für die US-amerikanischen Suchtforscher viel zu tun, will man die mit Overdose verbundene humanitäre Katastrophe endlich eindämmen.

Wie konnte es so weit kommen?

Bei der Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte, wird immer wieder Kritik am öffentlichen Gesundheitssystem der USA laut. Laut ALL NEWS PRESS gehört zu den in diesem Sinn Unzufriedenen auch Sarah Laurel. Sie ist die Gründerin der gemeinnützigen Streetworker-Organisation „Savage Sisters Recovery“ in Philadelphia, das als größter Open-Air-Drogenmarkt der Ostküste gilt. Sie fordert zum Beispiel mehr Tests von Xylazin beim Menschen, mehr Empathie im medizinischen System, eine Entstigmatisierung von Junkies sowie eine Aktualisierung von Entzugsprotokollen.

Diese Forderungen lesen sich alle sehr vernünftig und nachvollziehbar. Doch letztlich kann ich nicht beurteilen, ob das die richtigen Maßnahmen sind. Dafür bin ich viel zu weit vom amerikanischen Drogengeschehen entfernt. Doch ist dieses Geschehen weit genug entfernt, um zum Beispiel für Deutschland keinerlei Gefahr darzustellen?

Ist Xylazin auch für Deutschland eine Gefahr?

Bleiben wir bei Xylazin. Verlässliche Zahlen zur missbräuchlichen Verbreitung dieser Substanz in Deutschland findet man zwar noch nicht. Doch eine Unbekannte ist sie in diesem Kontext auch bei uns nicht. So hat ein Sprecher des Bundeskriminalamts erst im Dezember letzten Jahres gegenüber der Bildzeitung bestätigt: „Die Droge ist schon hier. In den Ballungszentren verzeichnen wir immer wieder Xylazin-Überdosen.“ Bereits einen Monat zuvor war dieser Umstand auch dem in Wuppertal für die Raverszene verlegten Faze Magazin eine Meldung wert: „Momentan ist eine als Ketamin gehandelte Flüssigkeit im Umlauf, die neben 10.4 % Ketamin auch Xylazin enthielt. […] Es gibt Berichte über Personen, welche nach dem Konsum von Xylazin medizinisch behandelt werden mussten. Vom Konsum wird dringend abgeraten!“

Besonders bemerkenswert sind aus meiner Sicht die Leserkommentare zum Artikel des Münchner Merkur über Xylazin. Ein Leser verweist darauf, dass Xylazin – neben Fentanyl – bereits in Bayern gebräuchlich sei. Zugegeben, sein Bericht ist nicht in allen Details stimmig und plausibel sowie zum Teil auch pauschalierend. Doch die Art, mit der andere Leser das direkt als „Märchen aus dem Paulanergarten“ abstempeln und von rein ideologisch geprägter Verfolgung bestimmter Rauschmittel sprechen, ist schon erschreckend. Wenn die kriminelle Gewinnsucht von Dealern auf so viel geballte Unbedarftheit bei ihren potenziellen Konsumenten trifft, hat dem auch das strengste Betäubungsmittelgesetz wenig entgegenzusetzen. Dann besteht die Gefahr, dass die „Zombiedroge“ Xylazin, so genannt aufgrund ihrer „fleischfressenden“ Nebenwirkungen, auch in Deutschland großen Schaden anrichtet.

„Als chemische Abhängigkeit hat man keine Wahl.“ – Ist das so?

Doch so weit ist es nach bisherigen Erkenntnissen Gott sei Dank noch nicht. Vielleicht leistet unser Frühwarnsystem, zu dem ich auch den vorliegenden Aufklärungsbeitrag zähle, seinen Teil dazu, dass dies in Zukunft so bleibt. Denn im Blackout jede Kontrolle zu verlieren und von offenen Wunden und verstümmelten Gliedmaßen schwer gezeichnet zu sein, das wünscht man keinem Menschen. Genau das ist aber das Bild, welches sich den Streetworkern von „Savage Sisters Recovery“ in Kensington, dem Problemstadtteil von Philadelphia, tagtäglich bietet. Einer von ihnen ist James Sherman. Er war selbst mal Konsument und hilft nun seinen ehemaligen Leidensgenossen*innen. Eine Fox News Korrespondentin fragt ihn: „Also, was hat es mit Tranq auf sich, dass die Leute zurückgehen, um einen Rausch zu bekommen, wenn ihre Beine und Arme und Finger amputiert werden müssen?“ Sherman antwortet darauf: „Als chemische Abhängigkeit hat man keine Wahl.“

Bei allem Verständnis für die Schwere einer solchen Abhängigkeit muss ich deutlich widersprechen: Doch, man hat eine Wahl. Immer. Natürlich ist es hart, einen Entzug erfolgreich durchzustehen. Einer der Xylazin-Konsumenten aus Kensington beschreibt die Symptome eines bereits nach wenigen Stunden einsetzenden Xylazin-Entzugs als Erdbeben mit Schmerzen, Erbrechen und Durchfall. Es sei alles auf einmal und zehnmal so schlimm wie Fieber. Ich kann nachvollziehen, dass man vor solchen Entzugserscheinungen Angst hat. Doch wie sieht die Alternative aus? In diesem Zusammenhang kommt mir ein Spruch in den Sinn, auf den ich vor einiger Zeit in Aphorismen.de gestoßen bin:

Sucht ist der Endzustand der Mißhandlung.“ (Unbekannt).

Den Weg aus dem Endzustand der Misshandlung muss keiner allein gehen!

In meinen Augen ist das eine sehr treffende Umschreibung für den Zustand eines Xylazin-Süchtigen. Lohnt es sich von daher nicht, sich zu fragen, was schlimmer ist: sich dem Endzustand der Misshandlung auf immer zu ergeben? Oder den Kampf dagegen aufzunehmen – auch wenn das bedeutet, dass dieser Weg zu Beginn ebenfalls nicht frei von Härten ist?

Hinzu kommt, dass in Deutschland diesen Weg keiner allein gehen muss. Denn hier gibt es ein flächendeckend ausgebautes Suchthilfesystem mit zahlreichen ambulanten und stationären Einrichtungen, wozu ja auch die private Suchtklinik Lifespring zählt. Dort ist man in der Lage, Entzugserscheinungen zu behandeln und erträglich zu gestalten. Dort hört man Ihnen zu, geht empathisch auf Ihre Ängste ein, stabilisiert und ermutigt Sie. Und vor allem: Dort eröffnet man gemeinsam mit Ihnen neue Perspektiven für ein suchtbefreites Leben.

Sie haben die Wahl! Immer!

Noch besser ist es natürlich, wenn es erst gar nicht so weit kommt. Sollten Sie in Ihrem Leben einmal wissentlich mit Xylazin oder anderen Drogen in Berührung kommen, denken Sie daran: Sie haben die Wahl! Immer! Sie können in einem solchen Fall einfach „nein!“ sagen. Und Sie können wachsam sein – ob im Rave-Club oder wo auch immer. Denn leider ist es aufgrund der Geruch- und weitgehenden Geschmacklosigkeit von „Tranq“ nicht auszuschließen, dass es mit seinem hohen Blackout-Potenzial im Sinne von K.o.-Tropfen Verwendung findet.

Über den Autor
Autor Frank Frank
Im Sommer 2018 bin ich von Lifespring mit der Redaktion dieses Blogs betraut worden und der Autor dieses Beitrags. Mein Name ist Frank. Seit vielen Jahren arbeite ich als freier Redakteur, Texter und Lektor. Auch ich habe eine „Suchtkarriere“ durchlebt. Bei mir war es der Alkohol. Seit 7 Jahren bin ich abstinent. Ich will hier nicht den häufig bemühten Himmel-Hölle-Vergleich bemühen. Denn beim Durchleiden meiner Sucht war nicht alles Hölle. Und jetzt, im Zustand der „Enthaltsamkeit“, ist nicht nur der Himmel auf Erden. Trotzdem war der Ausstieg aus einem alkoholschwangeren Leben die beste Entscheidung, die ich in jüngerer Zeit getroffen habe. Ich habe meine Freiheit und einen überwiegend klaren Kopf zurückgewonnen – auch wenn das Weltgeschehen mit nüchternem und enteuphorisiertem Blick nicht immer leicht zu ertragen ist. In diesem Blog möchte ich unter anderem über aktuelle Themen aus der Suchtforschung, aus dem Klinikalltag von Lifespring sowie aus den behandelten Suchtindikationen berichten. Ganz besonders möchte ich aber eins: Sie, als Betroffene oder Betroffenen, und Ihre unter Umständen ebenfalls betroffenen Angehörigen, genau da „abholen“, wo Sie der Schuh beziehungsweise die Sucht drückt.
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