Zum Erfolg des Kokainhandels oder: ein Lehrstück über menschliche Gier
Mit meinem heutigen Beitrag spanne ich einen etwas weiteren Bogen. Insofern handelt es sich eher um eine Geschichte als um einen Artikel. Im Kern handelt diese Geschichte von menschlicher Habsucht, Gier und Widersprüchlichkeit. Veranschaulicht wird sie am Beispiel der „Erfolgsstory“ des europäischen Kokainhandels. Es beginnt zunächst harmlos, wird dann aber. Doch lesen Sie selbst…
Das hätte es früher nicht gegeben…
Lautes Kinderplärren brandet im Treppenhaus auf. Beschwichtigend redet mein Nachbar seinem dreihalbjährigen Sohn gut zu. Aha, es ist wieder Kitazeit. Dort, wo ich wohne, wiederholt sich dieses Ritual allmorgendlich. Ich gebe zu: Manchmal nervt es mich, wenn der kleine Blondschopf bei gefühlt jeder zweiten Stufe aus reiner Bockigkeit Rotz und Wasser heult. „Das hätte es früher nicht gegeben“, schießt es mir durch den Kopf. Stimmt, früher hat man um seinen Nachwuchs nicht so viel Aufhebens gemacht. Aber wenn ich als kleiner Junge mit Schüttelfrost und hohem Fieber quengelnd im Bett lag? Dann waren meine Eltern besorgt und für mich da. Denn wenn Kinder aus gutem Grund weinten, ließ das auch damals keinen kalt.
Was es früher allerdings ebenfalls nicht gab: Lieferengpässe bei Hustensäften oder Zäpfchen für die Kleinsten der Kleinen. Und heute? Ab Februar 2023 sollen bei insgesamt 180 Kinderarzneimitteln die Festbeträge für drei Monate komplett ausgesetzt werden. Der Pharmaindustrie sollen so mehr Spielräume bei der Preisgestaltung eröffnet werden, damit sie ihre Produktions- und Lieferprobleme in den Griff bekommen. Betroffen sind keineswegs Exoten, sondern Allerwelts-Medikamente mit Ibuprofen und Paracetamol sowie Antibiotika.
Medikamente fehlen, während der Kokainhandel blüht
Ich kann verstehen, wenn alarmierte Eltern im Westen Deutschlands mittlerweile nach Holland fahren, um dort fiebersenkende Mittel für ihre kranken Sprösslinge zu besorgen. „Gerade Holland“, schießt es mir erneut durch den Kopf. Warum? Nun, in der Idylle der Grachten tobt ein regelrechter Krieg. Genauso übrigens, wie im benachbarten Belgien. Dabei geht es im Kern keineswegs um ein mit Lieferengpässen verbundenes Zuwenig. Ganz im Gegenteil, es geht um ein Zuviel und eine damit einhergehende Überschwemmung des Marktes. Die Rede ist von Kokain.
Wie absurd ist das denn? Ich verstehe die Welt nicht mehr – im Ernst. Da fehlt es in Deutschland an lebensnotwendigen Dingen. Denn neben Kinderarzneimitteln sind auch Medikamente zum Beispiel zur Brustkrebsbehandlung von Lieferengpässen betroffen. Der Vorstandsvorsitzende der Rewe Group, Lionel Souque, klagt ebenfalls über einen 20prozentigen Lieferrückgang und infolgedessen über zunehmend leere Regale in seinen Supermärkten.
Und die Dinge, die im Prinzip kein Mensch zum Leben braucht, sind im Überfluss verfügbar. Denn das Geschäft mit dem Kokain blüht. Schätzungen des European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA) zufolge liegt das Handelsvolumen des Kokainmarktes allein in Europa bei über 10 Milliarden Euro. An den Rekordmengen des in den letzten Jahren sichergestellten Kokains lässt sich zudem ablesen, dass der Markt kontinuierlich expandiert. Zum Beispiel meldeten die EU-Mitgliedsstaaten 213 Tonnen beschlagnahmtes Koks in 2019 gegenüber 177 Tonnen im Jahr zuvor. Erkennbare Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Kokain hatte dies übrigens nicht. Auch dies ist ein Indiz dafür, wie sehr der Handel mit dem weißen Pulver floriert.
Erinnerungen an die wilde Zeit der Mafia werden wach
Es gibt also viel zu gewinnen auf diesem Markt. Denn die Wertschöpfungskette wird bis zum letzten Cent ausgereizt. Dies wird durch Streckung des Materials zusätzlich forciert. Margen ab 100 Prozent aufwärts und zum Teil auch weit mehr sind daher eher die Regel als die Ausnahme. Entsprechend brutal ringen die rivalisierenden Drogendealerbanden in Belgien und den Niederlanden um Marktanteile und Vormachtstellungen. Denn dort sind mit Antwerpen und Rotterdam die wichtigsten Einfallstore und Umschlagplätze für den europäischen Markt angesiedelt.
Der niederländische Kriminologe Professor Cyrille Fijnaut sagte dazu im letzten Jahr der Tageszeitung „De Volkskrant“, dass die kriminellen Netzwerke von Belgien und den Niederlanden eng miteinander verzahnt seien. „Niederländische Kriminelle gehen nach Belgien und umgekehrt, sie missbrauchen die Grenze, um der eigenen Polizei und Justiz zu entgehen.“ Fijnaut sieht dabei zunehmend mafiaähnliche Strukturen in beiden Ländern.
In der Tat erinnert das Agieren dieser Strukturen immer häufiger an die wilde Zeit der italienischen und sizilianischen Mafiaclans in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts. Auch werden Assoziationen an das Chicago der amerikanischen Prohibition in den 30er Jahren wach. Denn immer häufiger werden die Kämpfe der Kokainmafia auf offener Straße ausgetragen – mit Schießereien, Granaten, Sprengsätzen, Morden und Einschüchterungen. Erst vor wenigen Tagen kam es dabei zu einem besonders tragischen Höhepunkt: In einem Ortsteil von Antwerpen wurde ein 11jähriges Mädchen von einer der auf ihr Elternhaus abgegebenen Kugeln so schwer getroffen, dass es kurz darauf verblutete. Auch ihr Vater und ihre beiden 13 und 18 Jahre alten Schwestern wurden dabei verletzt.
Die Polizei geht davon aus, dass die Täter – wie so häufig – aus den benachbarten Niederlanden gekommen sind und die Schüsse im Rahmen der Rivalitäten der Kokainmafia abgegeben wurden. Denn Othmann E.B., der Onkel der kleinen Firdaous, gilt als einer der führenden Drogenbosse in Antwerpen. Über ihn sollen nicht unerhebliche Teile des internationalen Kokainhandels laufen.
Belgien und Holland auf dem Weg zum „Narco-Staat“?
Die Frontlinien dieses Krieges verlaufen aber nicht nur zwischen den konkurrierenden Dealergangs selbst, sondern auch zwischen der Kokainmafia auf der einen Seite und dem Staat auf der anderen Seite. Im Herbst letzten Jahres musste sich zum Beispiel die niederländische Kronprinzessin Catharina-Amalia aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und in den Schutz des elterlichen Palastes flüchten. Zuvor waren Entführungspläne der Drogenmafia bekannt geworden. Ebenfalls kurz zuvor war der belgische Justizminister Vincent Van Quickenborne ähnlich bedroht worden. Er hatte der wuchernden Drogenkriminalität in seinem Land den Kampf angesagt.
Besonders besorgniserregend ist, wie die Mafia dabei zunehmend Verwaltung und Wirtschaft infiltriert und unterwandert. Möglich mache all das Korruption in großem Stil, wie die EU-Beobachtungsstelle mitteilt. Währenddessen beklagt die Polizei, dass ihnen Mitglieder der Drogenbanden regelrecht auf der Nase herumtanzten. Verschärfend kommt hinzu, dass die Strafverfolgungsbehörden dramatisch unterbesetzt sind, wie der oberste Generalstaatsanwalt Belgiens, Ignacio de la Serna, in einem Interview einräumte und warnte: „Die Mafia nimmt das Land in Besitz.“ Der Generalstaatsanwalt von Brüssel, Johan Delmulle, pflichtete ihm bei. Er sehe die Gefahr, dass Belgien ein „Narco-Staat“ (von Spanisch narcotráfico: Drogenhandel) werde und die organisierte Kriminalität eine immer größere Rolle im Kokainhandel spiele.
Dabei macht das Gebaren der Drogenmafia auch vor normalen Bürgern keinen Halt. In einer Reportage im deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen war vor kurzem zu sehen, wie ihre Mitglieder im niederländischen Nord-Brabant Produktionsstätten akquirieren. Zum Beispiel werden Landwirte, die ihre zum Teil gerade frisch sanierten Scheunen nicht freiwillig zur Verfügung stellen, subtil unter Druck gesetzt: „Wir wissen, wo deine Kinder zur Schule gehen!“ Und die Polizei? Auch hier weitgehend machtlos, weil chronisch unterbesetzt. Da nehme ich doch lieber in Kauf, dass ein Kind, wie eingangs erwähnt, aus reiner Bockigkeit quengelt, anstatt infolge eines solchen Bedrohungsszenarios. Furchtbar. Und das in Ländern, in denen wie bei uns das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit gilt und vor allem wir hier in NRW so gerne Urlaub machen.
Die Nachfrage der Konsumenten steuert den Markt!
Doch sind wir an diesen Zuständen so ganz und gar unschuldig und unbeteiligt? Nun, der Begriff Narco-Staat ist umstritten. Die Kritik daran: zu einfach und undifferenziert. Das sehe ich genauso. Denn die Entwicklung, die ich bis hierhin nachgezeichnet habe, verleitet viel zu schnell zu dem Schluss: alles Staatsversagen. Unter diesen Generalverdacht stellt man ja auch allzu gerne die südamerikanischen Koka-Anbauländer mit Kolumbien an der Spitze. Dies lässt aber einen ganz entscheidenden Aspekt vollkommen außer Acht: Die Nachfrage und die Konsumenten. Gäbe es sie nicht, gäbe es auch keinen Anbau und Handel von Kokain.
Es ist nicht ganz einfach, an belastbare Zahlen zur Menge der Konsumenten in NRW oder Deutschland heranzukommen. Nicht umsonst handelt es sich um ein Geschäftsfeld der kriminellen Schattenwirtschaft mit entsprechend hohen Dunkelziffern. Aber es gibt indirekte Indikatoren. So misst und erfasst man bereits seit einigen Jahren europaweit von ausgewählten Städten die Kokainrückstände im Abwasser. Auch Städte in der BRD beteiligen sich an dieser Aktion und melden ihre Ergebnisse der deutschen sowie der europäischen Drogenbeobachtungsstelle. Die Überraschung dabei: Die „Kokainhauptstadt“ Deutschlands liegt in NRW. Es ist Dortmund.
Mitten in NRW und Deutschland: Kokain ist Normalität
Auf Anhieb will es sich mir nicht recht erschließen, warum das so ist. Denn in meinen Augen ist Dortmund eine „stink-normale“ Stadt – sieht man einmal vom BVB ab. Doch die verkehrsgünstige Lage und gute Erreichbarkeit von Belgien und vor allem den Niederlanden aus scheint dieses Ruhrgebiets-Urgestein beim Kokain als „Verteilerzentrum des Westens“ zu prädestinieren. So berichten es zumindest die Ruhr Nachrichten.
Im europäischen Vergleich schafft es Dortmund zwar nicht unter die Top 15. Dieses Zahlen-Ranking ist für mich in diesem Zusammenhang aber weniger von Belang. Viel bemerkenswerter finde ich: Dortmund liefert ein aussagekräftiges Beispiel dafür, dass Kokain bei uns längst in der Normalität angekommen ist. Dies bestätigt ebenso eine ZDFinfo-Dokumentation, die das Thema unter dem Titel „Kokain, Dealen, Schmuggeln – Kokain für Deutschland“ beleuchtet. Zu Wort kommen zwei Koksdealer aus Berlin. Mit stoischer Selbstverständlichkeit geben sie zum Besten, wie sie regelmäßig z. B. Ärzte, Anwälte und Richter beliefern.
Staatliches Versagen oder bürgerliche Sabotage?
Gerade Berufsgruppen, wie Ärzte, Anwälte und Richter kennen die Schattenseiten des Kokainkonsums nur zu gut. Und es zählt zu ihren Aufgaben und Pflichten, diese Schattenseiten zu bekämpfen. Gleichzeitig befeuern aber unter anderem Mitglieder dieser Berufsstände mit ihrer privat ausgelebten Gier nach dem ultimativen Kick gerade das Gegenteil. Denn jeder Kokainkonsument trägt mit seiner Nachfrage zum Erstarken von hochkriminellen und menschenverachtenden mafiösen Strukturen bei. Die zum Teil bedrückenden Verhältnisse in südamerikanischen Narco-Staaten mögen für viele zu weit weg sein, um hier ein schlechtes Gewissen zu erzeugen oder gar Umdenken zu initiieren. Doch mit Belgien, den Niederlanden oder Deutschland sprechen wir von Ländern im Herzen unseres Kontinents.
Wenn sich der Kokainmarkt also bereits seit Jahren bei uns zu einer Erfolgsstory entwickelt, einer höchst zweifelhaften natürlich, zeugt dies in meinen Augen nur bedingt von staatlichem Versagen. Viel ursächlicher und maßgeblicher scheint mir in diesem Zusammenhang die menschliche Widersprüchlichkeit, Gier und Habsucht zu sein. Denn wie soll ein Staatswesen auf Dauer funktionieren und gelingen, wenn seine Leistungsträger und ganz normalen Bürger ihn auf diese Weise sabotieren?
Der zweifelhafte Ruf nach Legalisierung von Drogen
In diesem Kontext werden immer wieder Stimmen laut, die sich für die Legalisierung illegaler Drogen stark machen. Ihr Argument: Dies würde den kriminellen Machenschaften des Drogenhandels den Boden entziehen. Doch was dabei allzu leicht übersehen wird: Der Konsum von Kokain ist mit einem hohen Suchtpotenzial und weiteren ernst zu nehmenden gesundheitlichen Risiken behaftet. Dies wollen viele immer noch nicht wahrhaben. Ist es denn nicht eine Kernaufgabe des Staates, seine Bürger vor Schaden zu bewahren? Außerdem liefert die Genussdroge Alkohol ein gutes Beispiel dafür, dass sich mit der Legalität von Drogen keine Gesundheitsgefahren einschränken lassen. 7,9 Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Ein problematischer Alkoholkonsum liegt bei etwa 9 Millionen Personen dieser Altersgruppe vor (ESA 2021). So ist es auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums nachzulesen.
Viel wichtiger: Die Frage nach dem „Warum“
Ich halte es für sinnvoller, zunächst einmal danach zu fragen, warum Drogen à la Couleur sich solcher Beliebtheit erfreuen. Es liegt doch nahe, dass Menschen, die sie konsumieren, sich davon etwas erhoffen, was sie in ihrem Alltag sonst so nicht finden oder vermissen. Kokain zum Beispiel, steht im Ruf, leistungssteigernd und stimulierend zu wirken. Ist es von daher verwunderlich, dass in unserer Leistungsgesellschaft eine solche Droge hoch im Kurs steht? Worauf ich hinaus will: Wir müssen viel stärker das Gepräge und die Ausrichtung unserer Gesellschaft kritisch infrage stellen. Denn das verstärkte Aufkommen von Drogen und Süchten könnte ein Indikator dafür sein, dass in unserer Gesellschaft etwas Grundlegendes nicht stimmt. Ich will hier den Hang zum Drogenkonsum keineswegs monokausal herleiten. Dafür ist dieses Phänomen viel zu komplex. Aber die Forderung, den gesellschaftlichen Kontext in die Ursachenforschung stärker miteinzubeziehen, ist ja keineswegs neu.
Kokain wirft einen langen Schatten
Zum Ende meines heutigen Beitrags möchte ich Konstantin Wecker zitieren: „Unter Drogen findet man nicht sich selbst, sondern nur seinen Schatten.“ Der bekannte Münchner Liedermacher muss es wissen, denn er war 15 Jahre kokainsüchtig.
Hier schließt sich der Kreis. Denn nicht umsonst ist der Kokainhandel ein Geschäftsfeld der Schattenwirtschaft. In diesem Sinn wünsche ich all denen, die sich bei nächster Gelegenheit wieder eine „Straße“ reinziehen: Verlieren Sie sich nicht zu sehr in Ihrem Schatten! Ihr Licht hat mehr Charme und verdient es, neu entdeckt zu werden.